Die US-Regierung hat endlich die gesamten Pentagon-Papers veröffentlicht, die beschreiben, wie die amerikanische Bevölkerung auf Täuschungen basierend in den Vietnam-Krieg irregeleitet wurde. Der frühere Pentagon-Insider Daniel Ellsberg, durch den die Pentagon-Papers an die Öffentlichkeit gelangten, schreibt, dass heutzutage ähnliche Täuschungen Kriege in Afghanistan und anderswo ermöglichen.
Von Daniel Ellsberg, Übersetzung Lars Schall
Der 1931 geborene US-Ökonom Daniel Ellsberg, nach dem das Ellsberg-Paradoxon benannt ist, war ein hochrangiger Beamter des Pentagon während der frühen Phasen des Vietnamkriegs und Analyst bei der RAND Corporation, wo er an der geheimen Geschichte des Vietnamkrieges arbeitete, die als die Pentagon-Papers bekannt wurde. Nachdem es ihm nicht gelungen war, das Interesse an der als geheim eingestuften Geschichte im US-Kongress zu erwecken, spielte Ellsberg die Dokumente der New York Times und anderen Nachrichten-Organisationen zu, die dann der Nixon-Regierung trotzten, indem sie Artikel über die geheime Geschichte im Jahre 1971 veröffentlichten. Ellsberg wurde unter dem Espionage Act angeklagt, aber der Fall brach in sich zusammen, da bekannt wurde, dass Präsident Richard Nixon und andere hochrangige Regierungsvertreter rechtswidrige Handlungen begangen hatten, einschließlich eines Einbruchs in das Büro von Ellsbergs Psychiater, um Informationen zu suchen, die ihn hätten diskreditieren können.
Der nachfolgende Artikel erschien zuvor im englischen Original bei Reader Supported News und auf Consortiumnews, einer investigativen Website in den USA (siehe: “Today’s Pentagon Papers Warning“). Die Veröffentlichung der deutschen Übersetzung auf LarsSchall.com erfolgt durch persönliche Genehmigung des Herausgebers von Consortiumnews, Robert Parry, sowie von Daniel Ellsberg selbst.
Zu dem nachfolgenden Artikel möchte ich auch auf diese bemerkenswerte Veröffentlichung auf “Washington’s Blog“ vom 14. Juni hinweisen, die die Einschätzungen von Herrn Ellsberg zum Thema der “9/11-Täuschung“ behandelt, und zwar „Pentagon Papers Whistleblower Daniel Ellsberg Says that the Government Has ORDERED the Media Not to Cover 9/11“ unter:
http://georgewashington2.blogspot.com/2011/06/pentagon-papers-whistleblower-daniel.html
Die heutige Warnung der Pentagon-Papers
von Daniel Ellsberg
Die Deklassifizierung und Online-Veröffentlichung der vollen ursprünglichen Version der Pentagon-Papers am Montag – eine 7000-seitige Top-Secret-Pentagon-Studie der US-Entscheidungsprozesse in Vietnam von 1945 bis 1967 – geschieht 40 Jahre, nachdem ich sie 19 Zeitungen und Senator Mike Gravel gegeben hatte (abzüglich der Bände über die Verhandlungen, die ich nur dem Foreign Relations Committee des Senats gegeben hatte).
Gravel ließ das, was ich ihm gegeben hatte, Eingang in die Congressional Records finden und veröffentlichte später fast alles davon in der Beacon Press. Zusammen mit der Berichterstattung in den Zeitungen und der Edition des Government Printing Office (GPO), die stark geschwärzt war, aber die Edition von Senator Gravel überlappte, war das meiste Material für die Öffentlichkeit und Wissenschaftler seit 1971 zugänglich.
(Die Verhandlungs-Bände wurden vor einigen Jahren freigegeben; der Senat, wenn nicht das Pentagon, hätten sie spätestens am Ende des Krieges im Jahr 1975 veröffentlichen sollen.)
In anderen Worten, die Freigabe der gesamten Studie ist seit 36 bis 40 Jahren überfällig. Dennoch geschieht es leider eigentümlich rechtzeitig, dass diese Studie gerade jetzt Aufmerksamkeit bekommt und online geht.
Das ist so, weil wir wieder in Kriegen verstrickt sind – insbesondere in Afghanistan -, die bemerkenswert ähnlich zu dem 30-jährigen Konflikt in Vietnam sind, und wir haben keine vergleichbare Dokumentation und Insider-Analyse, um uns darüber aufzuklären, wie wir denn hier hingekommen sind und wohin wir denn wahrscheinlich gehen.
Was wir in diesem Monat veröffentlicht brauchen, sind die Pentagon-Papers über den Irak und Afghanistan (und Pakistan, Jemen und Libyen). Wir werden sie wahrscheinlich nicht bekommen; sie existieren wahrscheinlich noch gar nicht, zumindest nicht in der nützlichen Form der früheren.
Aber die ursprünglichen Studien über Vietnam sind überraschenderweise kein schlechter Ersatz, von denen es sich definitiv zu lernen lohnt.
Ja, die Sprachen und Ethnien, die wir nicht verstehen, unterscheiden sich im Nahen Osten von denen in Vietnam; das Klima, Terrain und die Art der Überfälle sind sehr unterschiedlich.
Aber wie die Aufzeichnungen in den Pentagon-Papers erklären, stehen wir vor dem gleichen vergeblichen Versuch in Afghanistan, nationalistische Guerillas zu finden und zu zerstören, oder aber, um sie zur Beendigung des Kampfes gegen fremde Eindringlinge (jetzt wir) und die korrupten, schlecht motivierten, mit Drogen handelnden Despoten zu bewegen, die wir unterstützen.
Wie in Vietnam: je mehr Truppen wir einsetzen und je mehr Gegner (zusammen mit Zivilisten) wir töten, desto schneller machen sie ihre Verluste wett und desto mehr schließen sich ihre Reihen, da es unsere pure Anwesenheit, unsere Aktivitäten und unsere Unterstützung eines Regimes ohne Legitimität sind, die die wichtigste Grundlage für ihre Rekrutierung darstellen.
Was Washington betrifft, so lesen sich die Aufzeichnungen der wiederkehrenden Entscheidungen zur Eskalation in den Pentagon-Papers wie ein erweiterter Vorläufer zu Bob Woodwards Buch “Obama’s War“ über die längeren internen Auseinandersetzungen, die den Entscheidungen des Präsidenten vorausgingen, die Größe unserer Streitkräfte in Afghanistan zu verdreifachen.
(Auch Woodwards Buch basiert auf Zuspielungen von Top-Secret-Material. Leider kamen diese erst, nachdem die Entscheidungen getroffen waren, und ohne begleitende Dokumentation: was immer noch nicht zu spät für Woodward oder seine Quellen ist, diese an WikiLeaks zu geben.)
In den Aufzeichnungen von Kriegen, die 40 Jahre und eine halbe Welt auseinanderliegen, lesen wir von den gleichen unverantwortlichen, selbst-dienenden Zielen der Präsidenten und des Kongresses, um einen nicht zu gewinnenden Konflikt zu verlängern und zu eskalieren: nämlich die Notwendigkeit, von politischen Rivalen nicht mit Schwäche oder dem Verlieren eines Krieges gleichgesetzt werden zu können, von dem ein paar nutzlose oder ehrgeizige Generäle törichter Weise behaupten, dass er gewonnen werden kann.
Indem wir den politischen Entscheidungsprozess und die Feld-Wirklichkeiten zusammensetzen, sehen wir die gleiche Aussicht auf ein endloses, blutiges Patt – es sei denn und bis, unter Druck der Öffentlichkeit, der Kongress mit der Kürzung des Geldes droht (wie 1972-73) und damit die Exekutive zu einem ausgehandelten Rückzug zwingt.
Zur Motivation der Wähler und des Kongresses, um uns von diesen Präsidentschafts-Kriegen zu befreien, brauchen wir die Pentagon-Papers der Nah-Ost-Kriege gerade jetzt. Nicht erst 40 Jahre in der Zukunft. Nicht einmal nur in zwei oder drei Jahren eines weiteren Engagements in Kriegen, die sich im Patt befinden und ungerechtfertigt sind.
Doch werden wir sie wahrscheinlich niemals innerhalb des Zeitrahmens erhalten, in dem sie benötigt werden. Die unerlaubten Enthüllungen von WikiLeaks im letzten Jahr sind die ersten seit 40 Jahren, die annähernd das Ausmaß der Pentagon-Papers haben (und sogar in Quantität und Aktualität übertreffen).
Leider aber hatte die mutige Quelle für diese geheimen Berichte auf der Feld-Ebene – wofür der Gefreite Bradley Manning der Angeklagte ist, obwohl das noch vor Gericht bewiesen werden muss – keinen Zugang zu streng geheimen Empfehlungen, Einschätzungen und Entscheidungen auf hoher Ebene.
Sehr, sehr wenige von denen, die diesen Zugang haben, sind bereit dazu, ihre Freiräume und Karrieren – und die wachsende Möglichkeit (unter Präsident Obama) der Strafverfolgung – zu riskieren, indem sie dem Kongress und der Öffentlichkeit politische Maßnahmen dokumentieren, von denen sie persönlich selber glauben, dass sie katastrophal sind, dass sie fälschlich geheim gehalten werden, und dass über sie gelogen wird.
Ich war einer – und bei weitem nicht der Einzige – mit einem solchen Zugang und solchen Ansichten als ein spezieller Assistent des Staatssekretärs des Verteidigungsministers für internationale Sicherheitsangelegenheiten im Pentagon 1964-65. (Mein unmittelbarer Vorgesetzter, John T. McNaughton, der primäre Assistent von Verteidigungsminister Robert McNamara für Vietnam, war ein Weiterer, wie in der kürzlichen Veröffentlichung seines persönlichen Tagebuchs dokumentiert ist.)
Ich habe es lange bedauert, dass es mir im August 1964 nicht einmal in den Sinn gekommen war, die Dokumente in meinem Pentagon-Safe freizugeben, angesichts der gelogenen Behauptung eines „eindeutigen, nicht provozierten“ (unechten) Angriffs auf unsere Zerstörer im Golf von Tonkin: dem Vorläufer der „über jeden Zweifel erhabenen Beweise“ der nicht vorhandenen Massenvernichtungswaffen im Irak, die den Kongress einmal mehr manipulierten, um das genaue Gegenstück zu der Golf-von-Tonkin-Resolutionzu verabschieden.
Senator Wayne Morse – einer der beiden Senatoren, die gegen diesen verfassungswidrigen, undatierten Blankoscheck für einen Präsidentschafts-Krieg im Jahr 1964 gestimmt hatten – sagte mir, dass wenn ich ihn mit diesem Nachweis zu der Zeit versorgt hätte (anstatt 1969, als ich ihn endlich dem Foreign Relations Committee des Senats bereitstellte, dem er gedient hatte):
„Die Golf-von-Tonkin-Resolution wäre nie aus dem Ausschuss herausgekommen, und wenn sie es bis zur Abstimmung im Plenum gebracht hätte, wäre sie abgelehnt worden.“
Das ist eine schwere Last, die ich zu tragen habe, vor allem, wenn ich bedenke, dass ich bis September eine Schublade voll von den streng geheimen Unterlagen hatte (die, abermals gesagt, leider erst 1971 veröffentlicht wurden), die sowohl die Falschheit von Johnsons Versprechen eines „nicht breiteren Krieges“ in seiner Wahlkampagne, als auch seinen eigentlichen Vorsatz bewiesen, einen Krieg zu eskalieren, den er privat und realistisch als nicht zu gewinnen ansah.
Hätte ich oder einer der zahlreichen anderen Beamten, die die gleichen Informationen der hohen Ebene besaßen, unserem Amtseid zufolge gehandelt – was weder ein Eid war, um dem Präsidenten zu gehorchen, noch um das Geheimnis zu bewahren, dass er seine eigenen eidesstattlichen Verpflichtungen verletzte, sondern einzig und allein ein Eid, „um die Verfassung der Vereinigten Staaten zu unterstützen und zu verteidigen“ -, so hätte dieser schreckliche Krieg womöglich insgesamt abgewendet werden können.
Aber um zu hoffen, diese Wirkung zu haben, hätten wir die Dokumente offenlegen müssen, als sie aktuell waren, vor der Eskalation – nicht fünf oder sieben oder auch nur zwei Jahre, nachdem die schicksalhaften Zusagen gemacht worden waren.
Eine Lektion, die aus der Lektüre der Pentagon-Papers im Wissen darum zu ziehen ist, was alles folgte oder sich in den Jahren seither ergab, ist diese. An jene im Pentagon, dem Außenministerium, dem Weißen Haus, der CIA (und ihren Pendants in Großbritannien und anderen NATO-Staaten), die einen ähnlichen Zugang zu meinem und das Vorwissen katastrophaler Eskalationen in unseren Kriegen im Nahen Osten haben, würde ich sagen:
Machen Sie nicht meinen Fehler. Tun Sie nicht das, was ich tat. Warten Sie nicht, bis ein neuer Krieg im Iran begonnen hat, bis weitere Bomben in Afghanistan, in Pakistan, Libyen, Irak oder Jemen gefallen sind. Warten Sie nicht, bis Tausende gestorben sind, bevor Sie an die Presse und an den Kongress gehen, um die Wahrheit mit Dokumenten zu sagen, die Lügen und Verbrechen oder internen Projektionen von Kosten und Gefahren enthüllen.
Warten Sie nicht 40 Jahre ab, bis sie freigegeben werden, oder sieben Jahren, wie ich es tat, damit Sie oder jemand anderes sie zuspielt.
Die persönlichen Risiken sind groß. Aber ein Krieg, der viele wertvolle Leben kostet, könnte verhindert werden.