DAS WANDERNDE AUGE – Was wirklich in Libyen auf dem Spiel steht

Heuchelei, Neusprech und Akronyme beherrschen den unerbittlichen Desinformationskrieg um Libyen, so der Investigativjournalist Pepe Escobar. Jenseits des Nebels des Krieges tritt jedoch der Sachverhalt zutage, dass Zivilisten bombardiert und nicht geschützt werden. Der einzig mögliche Ausweg aus der daraus resultierenden Flüchtlingskrise wäre ein Waffenstillstand; den wird es jedoch kaum geben.

Von Pepe Escobar, Übesetzung Lars Schall

Der 1954 geborene Pepe Escobar aus Sao Paulo, Brasilien ist einer der herausragendsten Journalisten unserer Zeit. Escobar, der vom früheren CIA-Analysten Ray McGovern schlichtweg “der Beste“ genannt wird, arbeitet für die Asia Times und ist ein Analyst von The Real News. Darüber hinaus ist er der Autor dreier Bücher: Globalistan: How the Globalized World is Dissolving into Liquid War, Red Zone Blues: a snapshot of Baghdad during the surge und Obama does Globalistan.

Er hat von verschiedenen Ländern und Konflikten berichtet, darunter Afghanistan, Pakistan, Irak, Iran, Zentralasien, U.S.A. und China. Für Asia Times Online ist er als ‘The Roving Eye’, das heißt: “Das Wandernde Auge“ unterwegs, um vor allem geopolitische Weltereignisse, aber auch die Art, wie sie in den Medien präsentiert werden, zu diskutieren. Diese Kolumne übersetzen wir mit freundlicher und ausdrücklicher Autorisierung von Pepe Escobar exklusiv für LarsSchall.com ins Deutsche.

DAS WANDERNDE AUGE

Was wirklich in Libyen auf dem Spiel steht

von Pepe Escobar

Weit jenseits des undurchdringlichen Nebels des Krieges wandelt sich die fortdauernde Tragödie in Libyen in einen Krieg von Akronymen, der die gewundenen „Geburtswehen“ einer möglichen Neuen Weltordnung plastisch veranschaulicht.

Auf der einen Seite gibt es die NATO (die North Atlantic Treaty Organization) und die AL (die Arabischen Liga), auf der anderen Seite die AU (die Afrikanischen Union) und die BRICS-Gruppe (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika). Alternativ kann dies auch als der atlantische Westen und seine konterrevolutionären arabischen Verbündeten gegen Afrika und die aufstrebenden globalen Wirtschaftsmächte gesehen werden.

Lügen, Lügen und noch mehr Lügen

Viel Poltern ist vom US-Kongress wegen Libyen ausgegangen – zentriert auf Formalien rund um den “War Powers Act“. (i) Im Wesentlichen weigern sich die US-Gesetzgeber bisher das zu genehmigen, was läuft wie ein Krieg und spricht wie ein Krieg (aber dennoch, nach dem Weißen Haus, kein Krieg ist). Es wird keine weiteren Mittel für eine verstärkte Beteiligung der USA an diesem NATO-Abenteuer geben; Mittel werden trotzdem weiter fließen.

Da die semantischen Verrenkungen, die Teil der Libyen-Tragödie sind, bereits weit über Neusprech hinausgehen, bedeutet das in der Praxis, dass US-Drohnen weiterhin zusammen mit NATO-Kampfjets Zivilisten in Tripoli bombardieren werden.

Im Gegensatz zum unbändigen Vijay Prashad vom Trinity College in Connecticut haben nur wenige im Westen vielleicht Notiz davon genommen, was der chinesische Ministerpräsident Wen Jiabao über all dies zu sagen gehabt hatte. In einem Meinungsartikel für die Financial Times vom 23. Juni mit dem Titel „How China Plans to Reinforce the Global Recovery“ („Wie China die globale Erholung zu stärken beabsichtigt“), verlautbarte Wen, dass China bereit ist, seine politischen Muskeln in MENA (Middle East / Northern Africa = Naher Osten / Nordafrika) über die BRICS einzusetzen.

Peking ist nicht gerade glücklich darüber, dass es per Ellbogen aus seinen beträchtlichen Investitionen im Energiebereich in Libyen heraus gedrängt wurde – mehr als 30.000 Arbeiter wurden binnen von nur zwei Tagen evakuiert; es will sicherstellen, dass es nach wie vor ein wichtiger Akteur ist, was immer auch in Libyen geschieht.

Das russische Außenministerium hat für seinen Teil bereits betont, dass die „physische Vernichtung [Muammar] Gaddafis und der Mitglieder seiner Familie Anlass zu ernsthaften Bedenken geben“. Gaddafis Tochter Aischa verklagt die NATO in Brüssel für die Tötung ihrer Tochter Mastoura, ihres Bruders und Gaddafis anderen beiden Enkelkindern.

Donatella Rovera, die führende Krisenreaktionsberaterin für Amnesty International, hat, nachdem sie drei Monate in Libyen verbracht hatte, berichtet, dass es absolut keinen Beweis dafür gibt, dass libysche Truppen auf Viagra an Massenvergewaltigungen von Frauen beteiligt waren (das ist eine Tatsache, soweit es den Internationalen Strafgerichtshof betrifft).

Amnesty fand ebenfalls keine Beweise dafür, dass Söldner aus Zentral- und Westafrika gegen die „Rebellen“ kämpfen. Laut Rovera wurden „diejenigen, die den Journalisten als ausländische Söldner gezeigt wurden, später still und leise freigelassen … Die meisten waren Migranten aus der Subsahara, die in Libyen ohne Papiere arbeiten.“

Einige aber wurden gelyncht. Die Kyrenaika ist historisch gegenüber Schwarzafrikanern voreingenommen gewesen.

Zivilisten wurden sowohl von der libyschen Armee als auch von der NATO bombardiert. Doch es gibt keinen Beweis, dass die libysche Luftwaffe „Rebellen“-Städte komplett bombardierte, und keinen Beweis für eine Massentötung von Zivilisten auf der Skala von Syrien oder Jemen. Auf den Punkt gebracht: das Gaddafi-Regime mag einen Rekord der brutalen Repression gegen jede Art von Opposition halten; aber es hat keinen Völkermord begangen. Das begräbt die Begründung für einen Krieg der humanitäre Falken unter der Erde.

Es herrscht die Heuchelei. Der Internationale Strafgerichtshof wirft Gaddafi, seinem Sohn Saif al-Islam – derjenige, der einst ein Liebling auf der London School of Economics gewesen ist – und seinem Geheimdienstchef Abdallah al-Senoussi „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ vor, während die schreckliche Diktaturen in Burma / Myanmar und die der al-Khalifen in Bahrain ungeschoren davonkommen.

Im Fall des Zweifels: Balkanisieren

Man muss in den höhlenreichen NATO-Hallen in Mons bei Brüssel eingeweiht sein, um abschätzen zu können, wie sehr dieser Schwarm von militärischen Bürokraten undurchlässig für die Realität ist. Die NATO glaubt immer noch, dass es den Krieg gegen Slobodan Milosevic durch die Bombardierung Serbiens für 78 Tage im Jahre 1999 “gewonnen“ habe. Was diesen Krieg „gewonnen“ hatte, war die Tatsache, dass Milosevic die politische Unterstützung Russlands verlor.

Nach mehr als 100 Tagen der Bombardierung Libyens mit 12.000 Einsätzen und 2.500 Zielen, setzt die NATO ihren Spin fort, dass sie „gewinnt“. Ja, so wie sie in Afghanistan “gewinnt“.

Neusprech herrscht – im Kontext mit einem unerbittlichen Desinformationskrieg. Die NATO lehnt es ab, freiheraus zuzugeben, dass sie in einer humanitären Befreiung von Libyen via Regime-Wechsel engagiert ist – was übrigens nicht von der UN-Resolution 1973 genehmigt wird.

Die USA ihrerseits haben das libysche TV vom ArabSat-Satelliten abgeschnitten – an dem Libyen Anteile hält. Dem neuen libyschen Vertreter bei den Vereinten Nationen wurde ein US-Visum verweigert. Dies bedeutet, dass nur der zwielichtigen, buntgemischten “Rebellen“-Truppe ein Forum in globalen englischsprachigen Medien gewährt wird.

Selbst mit der viel gepriesenen „Präzisionsbombardierung“ verliert die NATO mindestens eine von zehn Raketen. Dies erklärt die steigende Rate von „Kollateralschäden“. Ziele sind nicht nur militärische, sondern zunehmend wirtschaftliche, wie die libysche Münzprägeanstalt, die den Dinar druckt.

Es gibt keinen nationalen Aufstand gegen das Regime. Tripolitanien – das westliche Libyen – hat sich hinter Gaddafi gesammelt: schließlich wird er als Verteidiger des Landes gegen einen neo-kolonialen ausländischen Angriff betrachtet.

Und diejenigen in Benghazi, die glauben, dass der opportunistische neo-napoleonische Nicolas Sarkozy sie so sehr liebt, dass er sie im Rafale-Stil befreien will, so werden sie als Sündenböcke betrachtet – wenn nicht als Verräter. (ii)

Die Dschihadisten der nordafrikanischen al-Qaida amüsieren sich für ihren Teil bestens, die NATO für ihre Zwecke zu manipulieren – indem sie das befremdende Lynchen oder Amputieren in ausgewählten „befreiten“ Umgebungen durchführen.

Die NATO-Mischung aus Arroganz und Inkompetenz führt unweigerlich zu einer Balkanisierung Libyens – ein Szenario, das Asia Times Online schon vorhergesagt hat. Angesichts von fast zwei Millionen Maschinengewehren, die bereits unter der Bevölkerung verteilt worden sind, und unter der Annahme, dass die NATO es am Ende wagen wird, Bodentruppen einzusetzen – der einzige Weg, um einem entscheidenden „Sieg“ zu gewinnen -, kann man sich die absolut schrecklichen Folgen in puncto eines sehr blutigen Häuserkampfs vorstellen.

Ein neues NATO-Protektorat

Libyen ist bereits ein anschaulicher Fall einer post-modernen, neo-kolonialen Ausplünderung.

Die “gewinnende“ NATO bedeutet in der Praxis, dass die Kyrenaika eine unabhängige Republik wird – auch wenn die „Rebellen“ eher die Monarchie wiederherstellen würden (der Kandidat in London kann seine Ungeduld kaum verbergen). Das ist zufällig auch das, was Saudi-Arabien und Katar – wichtige Unterstützer des Regime-Wechsels – wollen.

Dieses „unabhängige“ Möchtegern-Emirat in Ost-Libyen ist bereits von einigen Ländern anerkannt worden, inklusive Sarkozys Frankreich. Kein Wunder, es konfiguriert bereits als NATO-Protektorat. Der ultra-zwielichtige Übergangsrat kann nicht einmal seine Mitglieder – opportunistische Überläufer, Informanten der US Central Intelligence Agency und mit dem Dschihad verlinkte Kleriker – bekannt geben. Darüber hinaus wurden schon Milliarden von Dollar an libyschen Vermögenswerten – illegal – durch die USA und die Europäische Union beschlagnahmt. Und ein Teil der nationalen Ölproduktion wird von Katar kommerzialisiert.

Dieser Straßenköter von einem NATO-Krieg hat absolut nichts mit R2P (“Responsibility to Protect“ = Verantwortung zum Schutz) zu tun – dem neuen Evangelium der humanitären Falken, das das Völkerrecht auf den Kopf gestellt hat. Zivilisten werden in Tripolis nicht geschützt, sondern bombardiert. Es gibt eine Flüchtlingskrise – eine direkte Folge dieses Bürgerkrieges. Entgegen wiederholten Bitten von der Türkei und der AU machen sich die humanitäre Falken nicht einmal die Mühe, einen humanitären Korridor in Richtung Tunesien und Ägypten zu organisieren.

Der einzig mögliche Ausweg ist ein Waffenstillstand – mit der NATO raus aus dem Rennen. Die Überwachung auf dem Boden würde den UN-Blauhelme zufallen – vorzugsweise aus Afrikanern zusammengesetzt. Der Westen besitzt absolut keinerlei Glaubwürdigkeit, um als Vermittler tätig zu werden: die Afrikaner wären die ersten, dies abzulehnen. Was also übrig bliebe, wären die Arabische Liga und die Afrikanische Union.

Die Arabische Liga ist pro-Benghazi. Tatsächlich ermöglichte eine künstliche Abstimmung der Arabischen Liga (die von Saudi-Arabien manipuliert wurde und an der nur neun von 22 Ländern teilnahmen, davon sechs Teil des Konterrevolutionsclubs des Golfs, der auch als GCC bekannt ist), die arabische Zustimmung zu dem, was die UN-Resolution 1973 wurde. In der Tat war dies ein Kompromiss, damit das Haus Saud seine Hände zur Unterdrückung der Pro-Demokratie-Proteste in Bahrain frei haben würde, wie Asia Times Online berichtete (siehe “DAS WANDERNDE AUGE – Der Libyen-Deal zwischen USA und Saudi-Arabien“ auf LarsSchall.com vom 4. April).

Die AU wurde wiederholt von dem anglo-französisch-amerikanischen Regime-Wechsel-Konsortium verhöhnt – selbst, als es eine Zusage von Gaddafi bekam, um Verhandlungen aufzunehmen. Die AU trifft nun wieder in Äquatorial-Guinea zusammen. Der Vorsitzende des Libyen-Gremiums der AU – der Präsident von Mauretanien, Mohamed Abdel Aziz -, hat bereits öffentlich gesagt, dass Gaddafi „Libyen nicht länger führen kann“, was ein erheblicher Schritt weiter für die AU ist.

Das bedeutet aber nicht, dass die AU – im Gegensatz zur NATO und den „Rebellen“ – den Regime-Wechsel genau hier und jetzt will. Gaddafis Verzicht auf die Macht wird ein natürliches Ergebnis der detaillierten Verhandlungen sein. Auf den Punkt gebracht: die AU hat einen Fahrplan zur Lösung; die NATO hat Bomben. Und die BRICS, insbesondere über China, Russland und Südafrika, bevorzugen die AU-Strategie.

Erwarten Sie, dass das US/NATO-Konsortium bis zum Tode kämpfen wird. Aus offensichtlichen Gründen – die alle verbunden sind mit der ewigen, unabsetzbaren Vollspektrum-Dominanz-Lehre (“full-spectrum dominance doctrine“) des Pentagon mitsamt einem entscheidenden Nebenplot: dem neuen strategische Konzept der NATO, das in Lissabon im November 2010 verabschiedet wurde (siehe Welcome to NATOstan, Asia Times Online, 20. November 2010).

Die NATO-Definition von „Sieg“ bedeutet, dass Benghazi ein neues Camp Bondsteel wird – die größte US-Militärbasis in Europa, die auch als ein „unabhängiger“ Staat unter dem Namen Kosovo firmiert. Die Kyrenaika ist das neue Kosovo. Die Balkanisierung herrscht.

Dies ist eine Art Traum-Szenario für die Verbindung zwischen NATO und Africom. Africom bekommt seine heiß herbeigesehnte afrikanische Basis (der derzeitige Sitz ist in Stuttgart, Deutschland) nach der Teilnahme an seinem ersten afrikanischen Krieg. Die NATO weitet ihre wichtige Agenda der Herrschaft über das Mittelmeer als NATO-See aus. Nach Nordafrika gibt es nur zwei Mittelmeer-Spieler, die noch aus dem Verkehr gezogen werden müssen: Syrien und Libanon. Der Name dieses Spiels lautet nicht Libyen, er lautet: der lange Krieg.

Anmerkungen des Übersetzers:

i Der “War Powers Act“ ist eine Gesetzgebung, die 1973 in Kraft trat. Mit ihr wird die Macht des US-Präsidenten, dem Oberbefehlshaber der Streitkräfte, zur Führung eines Krieges eingeschränkt – innerhalb von 60 Tagen muss er vom Kongress grünes Licht für Militäreinsätze eingeholt oder die Truppen innerhalb von 90 Tagen abgezogen haben. Nach Artikel I, Absatz 8 der US-Verfassung liegt allein beim Kongress das Recht, einen Krieg zu erklären. Der “War Powers Act“ ist im Übrigen nicht deckungsgleich mit der “War Powers Resolution“, die im Oktober 1917 entstand.

ii Die Rafale bzw. Dassault Rafale ist ein Kampfflugzeug der französischen Armee, das in Afghanistan und Libyen zum Einsatz kommt. Es wird von Dassault Aviation hergestellt, dem sechstgrößten Produzenten von Militärflugzeugen der Welt. Bemerkenswert ist, dass es dem Unternehmen bis dato nicht gelang, eine ausländische Kundschaft für dieses zweistrahlige Mehrzweckkampfflugzeug als Abnehmer ausfindig zu machen.

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