Als ich meinem Freund David P. Goldman aka Spengler heute wissen ließ, dass Heinrich Heine mein größtes Vorbild auf Erden ist, schickte er mir einen Essay zurück, „Loving Herodias“.
Von Lars Schall
“Auch fuer mich ist Heine ein Vorbild und Begeisterung. Sie kennen vielleicht diesen Aufsatz?“, schrieb mir Goldman zurück.
Nein, hochverehrter Herr Goldman, kannte ich bislang nicht. Aber nachdem ich Ihren Essay und seinen Inhalt las – superb, wie immer! –, will ich Ihnen mit ein paar Auszügen aus einem – unveröffentlichten – Episoden-Roman antworten, “Wie Heinrich Heine in Paris, wie Charlie Parker in New York“. Ich versteh‘ mich leider, müssen Sie wissen, mehr auf jene Liebe, die Qualen schafft.
DER MEISTER DER UNGLÜCKLICHEN LIEBE
Eine egozentrische Hommage voll fremder Zitate
„Es ist eine alte Geschichte,
doch bleibt sie immer neu;
und wem sie just passieret,
dem bricht das Herz entzwei.“
– Heinrich Heine –
***
Wie’s kam, dass ausgerechnet ich, ein durch und durch kleiner Mensch, jüngsthin das unverhoffte Plaisir genoss, mit ihm angeregt Konversation treiben zu dürfen, sintemal er schon tot ist, ich aber noch lebendig bin, stellt eine Frage dar, auf die ich nur eine Antwort kenne, und eine bescheidene obendrein: Ich liebe unglücklich, das ist meine Antwort.
Als Beweis dafür, dass ich liebe, und dies wohlgemerkt unglücklich, mag gelten, dass ich vor kurzem erst versuchte, ein Gedicht zu schreiben, um der adressierten Dame in Versform zu sagen, was anders nicht mehr, so überhaupt, zu sagen war. Normalerweise versteh ich mich nicht sonderlich auf Dichtungen, sollte ich anfangen, ja, ich hege sogar bisweilen arge Abneigungen dagegen, auch nur welche zu lesen. Freilich mit Ausnahme seiner Dichtungen, dorther mir stets, seitdem ich sie kenne, nichts Geringeres als das schönste, leichtfüßigste Deutsch von allen in den Ohren klingt.
Womöglich rührt’s aber auch daher, falls mir dieses Selbstbekenntnis gestattet sei, ich mein: Dass ich eine zerrissene Seele mein Eigen nenne, und dass sie mir – was Wunder – durch den unglücklichen Zustand, in dem ich mich befinde, nur noch mehr zerrissen scheint. Da mag man manchmal, ich weiß es nicht, Wahnvorstellungen bekommen.
Wir wollen aber gar nicht sosehr von mir reden und handeln, sondern vielmehr von dem Gast, der mich so gänzlich unerwartet besuchen kam. Das gebietet allein schon der Anstand, und wenn ich das hinzufügen darf: Anstand besitz ich wohl ein bisschen, zumal, wenn es um meinen Gast geht, der mir lieb und teuer ist wie sonst kaum ein zweiter Toter.
Obwohl: Wirklich tot kam er mir gar nicht vor, als ich ihn plötzlich, nachdem er angeschellt hatte, am späten Abend vor meiner Wohnungstür stehen sah. Ich erkannte ihn sogleich an seinem überlieferten Äußeren, und um mich zu bestätigen meinte er: „Eh bien, cet homme c’est moi!“
Man hat keine Begriffe davon, und kann auch keine haben, wie ich mich fühlte. Gerade eben hatte ich die Tür geöffnet, ohne Schlimmes zu befürchten, und dann steht da dieses Bild von einem Mann vor mir und meint, halb gelassen, halb vor Freude über den Ausdruck des Schreckens in meinem Gesicht: „Eh bien, cet homme c’est moi!“
Ich weiß nicht, wie lang ich ihn anstarrte. Er schien noch so lebendig zu sein. Von Alter war an ihm nichts auszumachen. Und in seinen Augen funkelte es geradezu.
Es war wohl mein Anstand, der mich endlich dahin brachte, meinen Gast zu bitten, einzutreten. Er bedankte sich und ließ sich von mir in die Küche geleiten. Nachdem wir Platz genommen hatten und ich mir erlaubte, auf Anhieb was Zerrissenes loszuwerden, sah ich meinen Gast angenehm ruhig bleiben. Gutmütig sprach er mit mir über meine Zerrissenheit, und darüber, dass er sie bestens nachvollziehen könne. Mir zur Freude zitierte er sogar aus einem seiner Werke, indem er über das Klagen, das die Zerrissenheit eines Dichters bisweilen bei Dritten hervorruft, sagte, dass man lieber beklagen solle, ich gebe ihn wortwörtlich wieder: „Dass die Welt selbst mitten entzweigerissen ist. Denn da das Herz des Dichters…“, hier zwinkerte er lieb mit dem linken Auge, „…der Mittelpunkt der Welt ist, so musste es wohl in jetziger Zeit jämmerlich zerrissen werden.“
Ich lächelte, gleichwohl ich berechtigten Anlass empfand, mich nicht zu den Dichtern zählen zu lassen, und das sagte ich ihm auch. Er jedoch, generös, wie er ist, maß dem kaum Beachtung bei, und redete mit mir weiter ohne Dünkel von Du zu Du. Das flößte mir Vertrauen ein, und peu à peu vermochte ich es ihm gegenüber mein Herz zu öffnen. Da erzählte ich ihm dann von meinem Unglück, meiner Unlust am Leben, und all den vergeblichen Tränen, die daher rührten. Das dauerte, soweit ich mich entsinne, ungefähr eine quälende Dreiviertelstunde lang, während der er immer wieder verständnisvoll und geduldig „Mm“ machte. Dann aber, als meine Litanei vorbei war, verglich er mich doch plötzlich mit dem Soldaten, „…dem seine Kameraden, als er schlafend auf der Pritsche lag, Unrat unter die Nase rieben; als er erwachte, kleiner Mensch, bemerkte er, es röche schlecht in der Wachstube, und er ging hinaus, kam aber bald zurück und behauptete, auch draußen röche es übel, die ganze Welt stänke.“
Zunächst wusste ich nicht, welche Reaktion ich zeigen sollte. Bis er anfing, unwiderstehlich zu lachen. Da konnte ich dann nämlich auch nicht mehr anders, da musste ich ebenso lachen, und wie: Mir standen fast die Tränen in den Augen, aber ungelogen.
„Nun, guter Compagnon“, sprach mein Gast nach einiger Zeit, „würdest du mir nicht vielleicht einmal persönlich das Gedicht, welches du verfasst hast, zeigen wollen?“
Woher er davon gewusst hatte, keine Ahnung, es sei denn, er lebt im Himmel. Und von Wollen konnte auch keine Rede sein. Ich wusste doch, dass mein Gedicht nie und nimmer zu existieren vermochte angesichts dessen, was er vor Jahren zu Papier gebracht. Allerdings ließ sich mein Gast nicht davon abbringen, er bestand ganz einfach darauf, da half alles nichts. Also erhob ich mich und holte das Gedicht aus meinem Arbeitszimmer. Mit zitternden Händen überreichte ich ihm das Blatt, auf dem es geschrieben stand, ohne mir bei der Dame, für die ich’s verfasst hatte, Glück gebracht zu haben.
Er begann zu lesen, und was mich betraf, so hoffte ich inständig, dass sich mein Gast als das erwiese, was er zu Lebzeiten einmal über sich selber bekundete: „Ich bin der höflichste Mensch von der Welt. Ich tue mir was darauf zu Gute, niemals grob gewesen zu sein auf dieser Erde, wo es so viele unerträgliche Schlingel gibt, die sich zu einem hinsetzen und ihre Leiden erzählen oder gar ihre Verse deklamieren.“
Meine Hoffnung trog nicht. Nachsichtig neigte er den Kopf zur Seite, als er mein Gedicht zu Ende gelesen hatte, schlug die Beine übereinander und sprach milde lächelnd, nichtsdestoweniger ernsthaft: „Was Prügel sind, das weiß man schon; was aber die Liebe ist, das hat noch keiner herausgebracht.“
Fast übergangslos fragte mich mein Gast sodann, ob wir nicht rausgehen sollten, einen Spaziergang halten. Ich hatte nichts dagegen einzuwenden, auf Französisch: Au contraire. Ich fand, frische Luft würde mir wohl tun, und überhaupt ließe sich richtig gut reden, sobald man sich erst mal im Freien bewegte.
So war’s denn auch, als wir uns in den Wäldern wieder sahen, die nur unweit von meiner Haustür zu finden sind. Flanieren, falls man das so nennen kann, hat der Mann übrigens durch jahrelanges Einüben in Paris gelernt, und zwar trés leger, darf ich behaupten. Oh ja, überhaupt keine Frage.
Unterdessen wir tiefer in den Wald vordrangen, erzählte er mir ein paar Dinge von einem alten Stück, das er wie folgt umriss: „Sie war liebenswürdig, und er liebte sie; er aber war nicht liebenswürdig, und sie liebte ihn nicht.“
Mit einem Lächeln sprach er zu mir, dass ich das Stück doch spätestens jetzt selber kennen müsste. „Oder?“
Ich nickte ihm zu.
„Und recht wahr, dann wissest du wohl, dass es ein ganz außerordentliches Stück ist?“
„Ja, nur etwas zu melancholisch nach meinem Dafürhalten“, meinte ich zu ihm, dem Meister der unglücklichen Liebe.
„Bien sur“, lächelte er. „Besonders, so man darin die Hauptrolle spielt.“
„Du aber“, war ich frei, ihm aufrichtig und bewundernd zu gestehen, „hast sie dafür superb gespielt.“
„Stimmt“, entgegnete mir der verehrte Freund ohne falsche Scheu und Bescheidenheit, „ich habe mal die Hauptrolle darin gespielt, und denk dir, ich spielte sie so gut, da weinten alle Damen. Nur eine einzige weinte nicht, nicht eine einzige Träne weinte sie, und das war eben die Pointe des Stücks, die eigentliche Katastrophe. Andererseits: Sie ließ mich am Leben, und ich lebte, und das war die Hauptsache.“
Wir schritten noch ein wenig weiter und alsbald konnte man uns nicht mehr sehen, es wurde zu dunkel für die bloßen Augen. Er indes, der Freund von ironischem Geiste, blieb hell, und er war mir, bis wir wieder bei mir zuhause ankamen, eine begeisternde Ursache von Freude und Leichtigkeit, kurzum, derjenige welche, der er mir immer war: Der unverwüstliche, göttliche Heinrich Heine aus Düsseldorf am Rhein.
Zum Abschied, als wir vor meiner Haustür standen, sahen wir zum nächtlichen Himmel hinauf, so wie es die Menschen seit Urzeiten tun, und ich flüsterte, mich an ein Gedicht von ihm erinnernd:
„Traurig schau ich in die Höh,
wo viel tausend Sterne nicken –
aber meinen eignen Stern
kann ich nirgends dort erblicken.“
Indem er mir nett auf die Schulter klopfte, übernahm er das Ende seines Gedichtes selber, eh er sanftmütig lächelnd wieder seines eigenen Weges ging:
„Hat im güldnen Labyrinth
sich vielleicht verirrt am Himmel,
wie ich selber mich verirrt
in dem irdischen Getümmel.“
Tja, und manchmal kann ich nunmehr schon aufrichtig behaupten, dass ich seither, ihm sei’s gedankt, nicht mehr gar sosehr unglücklich bin. Wenn ich nämlich dieser Tage feststelle, dass er früher oder später für immer richtig liegen wird mit dem, was er mir als eines von vielen Mantren anempfohlen hatte, während es in der Tiefe des Waldes zu dunkel geworden war, um uns noch mit den bloßen Augen sehen zu können:
„Es geht am End, ist kein Zweifel,
der Liebe Glut, sie geht zum Teufel.“
Das Gedicht, das Heine las:
wo nehm’ ich bloß die worte her?
wo nehm’ ich bloß die worte her?
es ist so schwer,
zu sagen, was zu sagen wär’…
man müsst’ schon ein großer dichter sein:
der besitzt viele schöne worte.
könnt’ ich sie haben, sie wären dein,
und führten dich zu meinem orte.
und ach, könnt’ ich erst singen:
dann wär’s wie im traum.
ich bräucht’ nur mein herz zum klingen zu bringen,
und leicht durchschrittest du zeit und raum.
nur all dergleichen bin ich nicht:
kein dichter, und schon gar kein sänger.
eher bin ich wohl ein kleiner geisteswicht –
und bei denen spricht sich ’s etwas enger.
wo nehm’ ich also bloß die worte her?
es ist so schwer,
zu sagen, was zu sagen wär’…
DIE TRAGIKOMÖDIE, DIE DICH BETRIFFT
Nun stell Dir vor, Du bist ein junger Mann und befindest Dich am frühen Abend auf dem Nachhauseweg. Auf dem Nachhauseweg gibt es einen Kiosk, an dem Du vorbei musst. Um an dem Kiosk vorbei zu gehen, musst Du eine Kreuzung überqueren. An der Kreuzung steht vis-à-vis von der örtlichen Commerzbank eine Ampel. Die Ampel steht auf rot. Während die Ampel auf rot steht, siehst Du auf der anderen Straßenseite eine junge Frau. Sie scheint Dich nicht zu sehen. Da Du kurzsichtig bist und keine Brille trägst, kannst Du nicht mit Sicherheit sagen, ob die junge Frau jene ist, von der Du Dich seit Monaten – Deine Hein’schen Mantren hin, Deine Hein’schen Mantren her – unglückselig angezogen fühlst. Denn nach wie vor handelt es sich um das bekannte Stück: Sie ist liebenswürdig, und Du liebst sie; Du aber bist nicht liebenswürdig, und sie liebt Dich nicht.
Indessen Du Dich noch fragst, ob’s die junge Frau ist, mit der Dich das alte Stück verbindet, springt die Fußgängerampel auf grün. Du setzt Dich in Bewegung, und siehst, dass die junge Frau in Richtung des Kiosk geht. In einem Abstand von etwas mehr denn zehn Metern folgst Du ihr. Als nächstes siehst Du, dass sie vergebens versucht, die Eingangstür des Kiosks zu öffnen. Sie macht einen Schritt zurück und dreht sich um. Sie sieht Dich, Du siehst sie, und da Ihr Euch seit Monaten nicht mehr getroffen habt, obwohl Ihr in der selben kleinen Stadt nur drei Minuten voneinander entfernt wohnt, freust Du Dich, sie wiederzutreffen. Die junge Frau lächelt, das kann sie charmant mit ihrer nur allzu lieblich anzuschauenden Kieferkompression, und Du lächelst zurück – eh Dir, als Du der jungen Frau gegenüberstehst, nur das Offensichtliche zu fragen einfällt: „Na, ist abgeschlossen?“
Die junge Frau nickt, und Du liest an der Eingangstür auf einem Schild die Auskunft: „Bin gleich zurück.“
Ihr beiden beginnt mit einen Gespräch, das – gleichwohl Du unglückselig in den Menschen, der Dir gegenübersteht, verliebt bist – nicht der Spur nach wehtut, wie es vielleicht hätte wehtun können. So überbrückt Ihr die Zeit, bis der Kiosk wieder öffnet, damit, dass Ihr Euch über Eure Mütter unterhaltet, insofern heute Muttertag ist: Sie hat mit ihrer Mama, die in einer großen, weit entfernten Stadt lebt, telefoniert, Du hast für Deine Mama, die in der selben kleinen Stadt lebt wie Du, gekocht.
Der Kiosk öffnet wieder: Sie kauft zwei Bier-Mischgetränke und eine große Packung Speiseeis, Du kaufst zwei Flaschen Pilsener. Sie verstaut ihre Sachen in ihrer Tasche, Du trägst Deine in Deinen Händen.
Zurück auf der Straße, fragst Du die junge Frau, ob sie noch fünf Minuten für Dich Zeit zum Reden hätte. Sie sagt, sie müsse in fünfzehn Minuten am Hauptbahnhof sein. Der Hauptbahnhof befindet sich in der genau entgegen gesetzten Richtung Deines Nachhauseweges. Sie weiß es und sagt: „Wenn du mich begleiten möchtest, können wir gerne miteinander reden.“
Du hast seit langem das Gefühl, mit ihr reden zu müssen, so dass Du Dich entschließt, mit ihr zu gehen, gleichviel, dass es sich dabei um den genau falschen Weg für Dich handelt.
„Ich lass nur meine beiden Bierflaschen hier“, sagst Du der jungen Frau und kehrst noch mal in den Kiosk zurück. Du machst es schnell – schon befindest Du Dich wieder draußen vor der Tür. Ihr geht los, und obwohl Du weißt, was der eitle Sonnenschein an Deiner Seite antworten wird, und obwohl Du weißt, dass Dir die Antwort in ihrer Klarheit nur elende Schmerzen zufügen kann, fragst Du die junge Frau: „Wie geht’s dir denn?“
„Sehr gut. Und dir?“
Genau so, wie es ihr sehr gut geht, geht’s Dir sehr schlecht. Nur darfst Du ihr das nicht sagen, gleichwohl beides irgendwie miteinander zusammenhängt. Dennoch: das ist sie noch nicht, die Tragikomödie, die Dich betrifft. Auch nicht, dass Du annimmst, dass sie weiß, dass es Dir schlecht geht. Stattdessen ist es einfach nur nicht leicht, zu antworten.
„In Ordnung, würde ich sagen.“
Das ist glatt gelogen, und während Ihr auf die Kreuzung zugeht, erwähnst Du der jungen Frau gegenüber das Dilemma, weshalb Du seit längerem mit ihr hast reden wollen. Das Dilemma, in dem Du steckst, ist die Tatsache, dass Du vor einiger Zeit ohne ihr Wissen angefangen hast, die Geschichte des Abends aufzuschreiben, an dem Ihr Euch kennen gelernt habt. Ursächlich wolltest Du die junge Frau damit zum Geburtstag überraschen. Doch irgendwann, als sie Dich auf Deinem Mobilphon anrief, hast Du es ihr verraten, und nachdem Du es ihr verraten hattest, dauerte es nicht lange, bis die junge Frau, die nun mit Dir Richtung Hauptbahnhof geht, große Vorbehalte gegen Dein Projekt entwickelte. Wie Du in einer Email von ihr lesen musstest, beschleicht sie das mulmige Gefühl, Dir mit dem, was Du schreibst, ausgeliefert zu sein. Immerhin könntest Du ja Dinge ausplaudern, von denen sie nicht möchte, dass sie anderen Menschen öffentlich gemacht werden.
Dass sich das den Absichten, die Du hegst, entzieht, bringst Du zum Ausdruck, indem Du die junge Frau fragst: „Meinst du, dass ich Dich bloßstellen oder verletzen möchte mit etwas, das ich angefangen habe, um es dir zum Geburtstag zu schenken?“
„Weiß ich nicht“, hörst Du sie antworten. „Allerdings weiß ich, dass ich dich nicht darum gebeten hatte, dass du dir irgendwas aus deiner subjektiven Sicht über mich zusammenschreibst. Und ich will auch nicht, dass ich nachdenken muss, was ich sage, aus Angst, dass du es aufschreiben könntest.“
„Das ist klar“, erwiderst Du. „Das verstehe ich. Und normalerweise, das hab ich dir schon gesagt, sollen die Leute, die es mit mir zu tun haben, auch sicher sein können, dass ich nichts von dem, was sie mir anvertrauen, aufschreibe. Wenigstens nicht ohne ihr Einverständnis. Beim Geburtstagsgeschenk geht das nur schlecht, vorher zu fragen, weil sonst die Überraschung kaputt ist. Und davon ab, müsstest du wissen, dass ein Geburtstagsgeschenk prinzipiell gedacht ist, Freude zu bereiten. Außerdem: Was hast du eigentlich zu befürchten? Ich bin doch derjenige gewesen, der Zeit unserer Bekanntschaft immerzu geredet hat.“
„Ich erinnere mich“, sagt die junge Frau mit einem nicht zu unterdrückenden Schmunzeln.
„Dann brauchst du dir auch keine Sorgen zu machen“, meinst Du zu ihr. „Ich hab mir das reiflich durch den Kopf gehen lassen, was ich schreibe. Mir ist das eine oder andere Problem, das damit zusammenhängt, ja bekannt. Deshalb bin ich auch nicht daran interessiert, einen reinen Tatsachenbericht zu schreiben. Es geht mir um den Kern der Geschichte, allein um den Kern, und der ist nun mal wahr. Und davon abgesehen, dass ich dir auch schon gesagt habe, dass ich Dir in gewisser Weise für die Geschichte, die ich mit dir erleben durfte, dankbar bin: Wieso hab ich dir eigentlich, als wir uns kennen gelernt haben, die ganzen traurigen Sachen, die es in meinem Leben gab, erzählt? Die hab ich dir erzählt, um dein Vertrauen zu gewinnen. Und wieso wollte ich dein Vertrauen gewinnen? Etwa, um es zu enttäuschen? Welcher Mensch bemüht sich um das Vertrauen eines anderen Menschen, um es dann, wenn er es hat, zu enttäuschen? Bin ich pervers? Lock ich kleine Kinder mit Schokolade in den dunklen Wald hinein?“
„Ich glaube nicht“, lächelt die junge Frau leicht ironisch. „Das ändert aber nichts an dem, was ich dir geschrieben habe.“
Der Nachklang ihrer Antwort tut Dir weh, und in den Minuten, die folgen, merkst Du wieder einmal, wie sehr Du ungewollt recht behältst mit jenen Zeilen, die Du der jungen Frau einst zu Papier brachtest:
es ist so schwer
zu sagen, was zu sagen wär’…
Du bringst es nicht raus, es bedarf zu vieler Worte, die Dir jetzt, wo Du sie dringend benötigen würdest, auf so kurzer Strecke nicht einfallen wollen. Alles, was Dir bleibt, ist darüber hinwegzuspielen, ohne dass es sich dabei einmal mehr schon um die Tragikomödie handelte, die Dich betrifft. Die tritt erst ein, als Du mit der jungen Frau die Ampelanlage erreichst, die vor dem Hauptbahnhof steht. Denn nachdem Du den Schalter an der Ampel gedrückt hast, um eine Grünphase für Fußgänger herbeizuführen, eröffnet Dir die junge Frau, dass sie gar nicht beabsichtigen würde, nach drüben zu wollen: „Ich hatte nur vor, ein bisschen dem Punkt-Punkt-Punkt entgegenzugehen, der gleich mit dem Zug kommt“, sagt sie, den Namen ihres Freundes nennend.
Sogleich macht es irgendwo in Dir unglaublich RUMMS!, Du fühlst Dich gar nicht wohl, und ohne sie noch einmal anzuschauen, murmelst Du mit entgleistem Gesicht so etwas wie: „Dann mach’s mal gut“ – und gehst.
Auf Deinem Nachhauseweg empfängst Du gerade in dem Moment, als Du erneut an der Kreuzung mit der roten Ampel stehst, eine Nachricht auf dem Mobilphon. Indem es am Himmel über Dir langsam Abend wird, liest Du vis-à-vis vom Schriftzug der örtlichen Commerzbank: „Das ist genau einer der Gründe, weswegen ich keinen engeren Kontakt zu dir wünsche. Immer diese Reaktionen auf Dinge, die nichts mit dir zu tun haben. Unberechenbar halt…Traust du mir wirklich zu, dass ich dich ins offene Messer laufen lassen wollte? Hätte schon eine Begegnung zu verhindern gewusst. Mann oh Mann!“
Und da stehst Du dann dort an der roten Ampel und denkst Dir, dass darin gar nicht der Grund zu suchen ist, weswegen Du Dich veranlasst gesehen hattest, so miserabel von der Bühne abzutreten. Nein, das ist nicht die Tragikomödie, die Dich betrifft. Die Tragikomödie, die Dich betrifft, ist die, dass Du Dir irgendwann einmal von der jungen Frau gewünscht gehabt hättest, dass sie Dir ein wenig entgegengekommen wäre. Und stattdessen geht sie einige Monate später mit Dir ihrem Freund entgegen. Nimmt schon wundersame Wendungen, das Leben, nicht wahr, junger Mann?
VON DEN ÜBERFLÜSSIGEN TAGEN
War der heutige Tag wirklich nötig?
War er nicht überflüssig
wie all die anderen Tage,
die ich nun erlebte
so ganz ohne Dich?
Und morgen Abend, wenn ich schlafen geh, werde ich sagen können:
„Der heutige Tag war nötig“,
oder werde ich nicht wieder sagen müssen:
„Auch er war überflüssig“
so ganz ohne Dich?
Wie nötig wäre es,
könnte ich Dir mit Heine sagen:
„Glaub nicht, dass ich mich erschieße / wie schlimm auch die Sachen stehn!
Das alles, meine Süße, / ist mir schon mal geschehn.“
Wie nötig wäre es,
könnte ich solches sagen.
Wie nötig an überflüssigen Tagen
so ganz ohne Dich.
MIT HEINE IM DUNKLEN, DUNKLEN WALD
…ja, und will man jetzt noch wissen, worüber Monsieur Heine und ich redeten, während es im Walde zu dunkel geworden war, um uns mit den bloßen Augen sehen zu können, so war es ungefähr dergestalt. Nachdem er mich auf das alte Stück verwiesen hatte, welches er wie folgt umriss: „Sie war liebenswürdig, und er liebte sie; er aber war nicht liebenswürdig, und sie liebte ihn nicht“, und nachdem ich ihm geantwortet hatte, es sei nach meinem Dafürhalten doch etwas zu melancholisch geraten, versuchte mich Heinrich Heine aufzubauen, indem er mir erzählte, wie es gewesen war, als er einst darin die Hauptrolle gespielt hatte: „Und denk dir, ich spielte sie so gut“, sagte er, „da weinten alle Damen. Nur eine einzige weinte nicht, nicht eine einzige Träne weinte sie, und das war eben die Pointe des Stücks, die eigentliche Katastrophe. Andererseits: Sie ließ mich am Leben, und ich lebte, und das war die Hauptsache. – Bon chance, somme toute, dass dir deine große Liebe auch das Leben lässt, wie es mir einst geschah!“
„Ist das also dein Wunsch, der mich fortan begleiten soll: Überleben statt lieben?“, fragte ich ihn.
Er antwortete: „De temps en temps müssen Opfer gebracht werden, gerade auch contre coeur, sonst sind’s keine Opfer.“
„Aber was bleibt mir denn dann noch?“
„Immerhin der Güter Höchstes: das Leben.“
„Ja, und soviel Schmerz.“
„Ich weiß.“
„Und wie soll ich das durchstehen können?“
„Das muss jeder für sich selbst herausfinden, tut mir leid, darauf läuft’s hinaus. Und außerdem, wenn ich mich gar recht entsinne, so nannte ich das alte Stück eine Tragödie, obschon der Held darin weder ermordet wird, noch sich selbst ermordet. “
Er blieb in der Dunkelheit auf dem Wege stehen und sah mir direkt in die Augen: „Es tut weh, es ist bitter, gewiss; aber du wirst herausfinden, wie du damit leben kannst, das ist ebenso gewiss.“
„Und wenn ich nicht will?“
„Wirst du bloß noch mehr darunter leiden.“
„Leide ich nicht erst, sobald ich alle Hoffnung fahren lasse?“
Er räumte ein: „Alors, gewiss. Nur, petit homme“, erklärte er mir: „Je länger du wartest, den Schritt zu tun, den du ja doch eines Tages wirst tun müssen, desto größer wird der Schmerz sein, den du dann zu spüren bekommst.“
„Kann es aber die große Liebe sein, wenn ich imstande wäre, sie aufzugeben?“
„Es kann, es kann, oh ja, das kann es. Das unterschreib ich dir mit meinem guten Namen, dass es das kann.“
Ich musste lächeln, denn wie sollte ich ihm da noch widersprechen, wenn er dafür seinen guten Namen hergeben wollte?
„Dann glaub ich es dir aufs Wort!“, sagte ich trotz allem, was mich sonst daran stören mochte.
Monsieur Heine erwiderte mein Lächeln und fragte: „Sollen wir noch ein Stückchen weitergehen?“
„Hast du denn soviel Zeit?“
Er antwortete mit gemimter Gleichgültigkeit: „Wenn ich jetzt schon einmal hier bin…“
Ich hörte seine Antwort liebend gern, äußerte wohl auch so etwas wie: „Merci bien“, und ging hocherfreut mit ihm weiter in die Dunkelheit. Gleichwohl: man kann bestimmt ermessen, dass es insgesamt ein mulmiges Gefühl war, mit einem Toten unterwegs zu sein. Wusste ich denn wirklich, dass neben mir des nächtens Heinrich Heine ging? Wie konnte ich mir da sicher sein? Hatte ich nicht allen Anlass, auch und gerade Angst zu spüren angesichts der Tatsache, dass ich überhaupt annahm, dass Heinrich Heine neben mir im Walde des Nachts spazieren ging? Wer kommt auf solch eine Idee?
„Glaubst du eigentlich“, fragte Heine, „dass die schöne Frau A, wie du sie nennst, mit dir glücklicher geworden wäre als mit ihrem Verlustiger, wie du ihn nennst?“
„Woher soll ich das wissen?“, sagte ich. Die Frage, die er aufgeworfen hatte, tat weh. Der Schmerz versicherte mir, dass wenigstens er echt war.
„Ich hätte es mir bloß gewünscht, das ist alles“, meinte ich weiter. „Ich hätte es gern darauf angelegt. Ist es anmaßend, so zu denken?“
„Non.“
„Und ist es schlimm, darüber Kummer zu empfinden, dass die schöne Frau A nun wohl noch ein wenig enger mit dem Verlustiger beisammen ist, nachdem er ihr seine Liebe gestanden hat?“
„Non.“
„Das ist doch die eigentliche Strafe an der ganzen Sache mit dem Verlustiger, den sie nicht mehr ihren Verlustiger, sondern den Punkt-Punkt-Punkt nennt: Dass er mich anscheinend vonnöten hatte, um ihr seine Liebe gestehen zu können. Da muss einer von außen kommen, der nichts, aber wirklich gar nichts mit ihm zu schaffen hat, auf dass er mal über sein Innerstes spricht. Soll ich das Mut nennen, soll ich davor Respekt aufbringen? – Mir ist schon klar, dass es nicht einfach ist, einer Frau ein Liebesgeständnis zu machen. Da bekommt man’s schön mit der Unsicherheit, wenn nicht gar mit der Angst zu tun. Ist klar, wie schwach man sich da fühlt. Wie verletzlich. Wie in Not. Wie ausgeliefert auch. Aber Herrgott: Der Mann hatte mit der schönen Frau A die ganze Zeit über schon geschlafen! Liegt doch auf der Hand, dass er mit ihr viel vertrauter und sicherer darüber sprechen konnte als ich. Vor allem sah er sich in die Lage versetzt, Taten sprechen lassen zu können, statt impotente Gedichte schreiben zu müssen. Und meinst du etwa nicht, dass die beiden Leute, die aus meiner Sicht praktisch nix von einander wussten, dadurch, dass zwischen ihnen das Wort ‚Liebe’ gefallen ist, auch eine insgesamt größere sexuelle Leidenschaft für einander zustande gebracht haben?“
„Nicht so laut!“, fuhr mir Heine in die Parade. „Denk an die schlafenden Tiere!“
„Schon gut“, flüsterte ich. „Tut mir leid. Ähm, aber jetzt wirklich mal, vom Standpunkt der schönen Frau A betrachtet, ja: Ich schlaf doch lieber mit einem Mann, von dem ich weiß, dass er mich auf jeden Fall liebt, oder nicht?“
„Davon ist auszugehen.“
„Von des Herrn Verlustigers Liebessensationen ganz zu schweigen. Alles das ist jedoch erst eingetreten, verstehst du mich, nachdem ich erst einmal mit mir selber im stillen Kämmerlein habe darüber übereinkommen müssen, der schönen Frau A meine Liebe zu beichten. Denn dann nämlich, nachdem ich das gemacht habe, spricht sie mit ihrem Verlustiger darüber und der sagt: Ach du, ich müsst dir auch was sagen, ich wusste nur bislang nicht wie, also, ich lieb dich auch! – Wie armseliger geht’s ’n noch?“
Heine, wie immer in solchen Fragen um Ausgleich bemüht, fragte mich, ob ich das nicht verstehen könnte, und ob ich nicht vielleicht auch dergestalt gehandelt hätte.
„Natürlich, das ist ja der Ärger bei der ganzen kackbraunen Angelegenheit: Ich versteh den Schnarchzapfen, ich versteh ihn. Kaum ein Mann der Welt verlässt eine Frau, wenn er nicht schon eine Nächste bei der Hand hat. Gänzlich zu schweigen, wie’s aussieht, wenn er Gefahr läuft, derjenige zu sein, der verlassen wird. Ich denke, hey, das muss man einmal rational betrachten, ohne Gefühl und falsche Sentimentalitäten. Machen wir die Menschen nicht besser als sie sind.“
„Du beneidest ihn, kann das sein?“
Es fiel schwer, zu antworten, drum nickte ich nur traurig, statt geradeaus „Ja“ zu sagen.
„Ist eine missliche Rolle“, bemerkte Heine, „den Steigbügelhalter für das Glück eines Anderen abgeben zu müssen.“
„Gibt keine Worte dafür, um ehrlich zu sein“, flüsterte ich recht verzagt. „Deshalb tut das doch alles so unsagbar weh. Ich mein, noch mal: Ich konnte der schönen Frau A nur meine Liebe beichten, ohne sie wirklich zu kennen. Er aber war doch schon mit ihr intim, als er ihr seine Liebe gestand. Ist doch klar, dass er da auch irgendwie günstigere Karten besaß. Und von der schönen Frau A habe ich nie wirklich je ein Wort des Bedauerns dazu gehört. So von wegen: Tut mir leid, dass du in unsere Schusslinie geraten bist, Herr P. Anscheinend haben wir dich benötigt, um jetzt erst recht Big in Japan zu sein. Das erachte ich nämlich hic et nunc für die historische Wahrheit: Wenn ich nicht dahergekommen wäre, hätte der Herr Verlustiger niemals seine Liebe gestanden; wäre ja wie bisher keine Veranlassung für vorhanden gewesen, sich diese Blöße geben zu müssen. Und wenn der Herr Verlustiger aber seine Liebe nicht gestanden hätte, wüsste die schöne Frau A höchstwahrscheinlich immer noch nichts von ihrem Glück. Die Beziehung, die sie jetzt mit ihm führt, ist jedenfalls qualitativ eine andere als vorher, und ohne mich hätte es das in der Form, wie’s zustande gekommen ist, so nicht gegeben, Scheiße noch einmal!“
„Du wirst schon wieder laut und schreckst die schlafenden Tiere auf!, tadelte mich Heine, bevor er sogleich mitfühlend meinte: „Tja, das ist wohl extraordinaire traurig und flagrant, wenn es sich so verhält, wie du’s erzählt. Aber was will man tun? Vorhaltungen machen, Urteile fällen? Non, non, guter Compagnon, lass dir gesagt sein, dass es allemal gescheiter ist, sich darum zu bemühen, gegen niemanden in dieser Welt Groll zu hegen. Gegen niemanden, sag ich dir! Jeder ist selbst krank genug in diesem großen Lazarett und nicht von ungefähr erinnern mich solche Vorhaltungen an ein widerwärtiges Gezänk in einem kleinen Lazarett zu Krakau, wobei ich mich als zufälliger Zuschauer befand, und wo entsetzlich anzuhören war, wie die Kranken sich einander ihre Gebrechen spottend vorrechneten. Am Ende sprangen die Fiebertollen nackt aus den Betten und rissen den Kranken die Decken und Laken von den wunden Leibern, so dass nichts als scheußliches Elend und Verstümmelung zu sehen war.“
Ich konnte mir nicht helfen: Ich musste wohl schmunzeln ob so viel treffenden Bildergeists des Monsieur Heine.
„Du hast ja recht“, sagte ich und fand schnell zu meiner sonstigen, weiter unten angesiedelten Stimmung zurück: „Aber mein Herz ächzt darunter. Es will zerspringen, zerreißen. Es will nicht mehr eins bleiben, Herrgott!“
„Wer von seinem Herzen rühmt“, meinte Heine sanft, „es sei ganz geblieben, der gesteht nur, dass er ein prosaisches weitabgelegenes Winkelherz hat. Durch das Herz eines Dichters aber geht der große Weltenriss, und eben deswegen weiß ich, dass jemand, der Kummer und Pein erfährt, von den Göttern vor vielen anderen hoch begnadigt und des Dichtermärtyrertums würdig geachtet wird. Wer wollte denn schon je annonciert haben, kleiner Mensch, dass die Geburt eines Dichters ohne Wehen und Schmerzen auskäme?“
„Ja, aber ich bin doch kein Dichter, auch wenn ich ab und zu Gedichte schreibe.“
„Du könntest aber noch einer werden, und das wäre nicht wenig. Man ist viel, wenn man ein Dichter ist. Und für derlei Belang, kleiner Mensch, ist so ein Riss im Herzen nicht die verkehrteste aller Grundlagen, crois-moi.“
Der Weg, den wir in der Dunkelheit gingen, begann eine lang gezogene Kurve zu ziehen, die langsam, aber stetig zu einer Anhöhe hinaufführte.
„Kennst du eigentlich die Route, die wir gerade gehen?“, erkundigte sich Heine als nächstes bei mir.
Meine Antwort lautete, der Wahrheit gemäß: „Da ich hier häufiger spazieren gehe, wenn auch nicht des Nachts, darf ich wohl behaupten, sie zu kennen: Von hier aus ist es noch etwas mehr als einen Kilometer, bis wir zu einem der schönsten Aussichtspunkte kommen werden, den Da-und-da zu bieten hat.“
Ich hatte gerade geantwortet, als es urplötzlich vor uns im Gebüsch zu rascheln anfing. Aus dem Gebüsch sprang ein Hase hervor, der sofort vor Schreck stehen blieb. Auch mich überkam ein gewisser Schrecken. Wie angewurzelt starrte ich den Hasen an. Keine Ahnung, wessen kleines Herz schneller schlug: Seines oder meines. Ich weiß allein, dass ich mich fragte, ob der Hase imstande wäre, meine Begleitung wittern zu können. Tiere haben ja ganz ausgeprägte Wahrnehmungsfähigkeiten für derartige Phänomene.
Was Heine betraf, so ging er vor dem Hasen in die Knie. „Ja, da schau her!, sagte er. „Wen haben wir denn da zu Besuch bekommen?“
Der Hase vermochte den toten Mann in der Tat zu wittern. Denn als Heinrich Heine seine feingliedrigen Hände nach ihm ausstreckte und sprach: „Komm einmal her, mein kleiner, drolliger Freund!“, hoppelte der Hase vertrauensselig in seine Arme hinein.
„Hui, du bist aber ganz schön schwer!“, befand Heine, als er sich wieder empor streckte. „Du würdest gewiss einen guten Braten hergeben“, erklärte er dem Hasen, indem er ihn erst an den ausgereckten Händen hoch hielt und ihn dann ganz nah an sein Gesicht führte. „Dir braucht jedoch nicht bange werden, ich tu dir nichts. Ich könnte sowieso nichts verspeisen, das mich so lieb und nett anschaut, wie du, mon bel ami.“
Ich nahm den Anblick, den der Hase in den Armen Heines machte, als Garant dafür, dass Heine wirklich mit mir durch den nächtlichen Wald spazieren ging. Wodurch ich mich, dem Hasen sei’s hiermit nachträglich vergolten, gleichermaßen schon etwas weniger zu fürchten brauchte.
In der Zwischenzeit, während er dem Hasen sanft und zärtlich übers Fell strich, schritt Heine weiter den Weg entlang, und ich ihm hinterher.
„Falls es mir gestattet ist, noch mal auf das einzugehen“, sagte ich beflissentlich, „was du vorhin über die Welt als Lazarett geäußert hast, möchte ich meinen, dass ich das voll und ganz versteh. Ich seh’ schon ein, dass es besser wär’, gegen niemanden in der Welt Groll zu hegen. Die Perspektive, dass ein jeder von uns selbst krank genug ist, und dass es sich daher erübrigt, gegen andere zu sticheln, will mir trefflich einleuchten. Im Grunde steckt darin der Schlüssel zum inneren Frieden. Nichtsdestoweniger ist es hart, deinen modus operandi zu befolgen, soweit es um die schöne Frau A und ihren Schnarchzapfen geht.“
„Höre mir zu, Compagnon“, sagte Heine erfahren und weltgewandt, ehe es wieder zu dunkel wurde, um uns noch mit bloßen Augen sehen zu können: „ L’amour est une maladie pour laquelle on souhaiterait avoir un remède, mais il n’y en a pas.“
Und damit meinte er wohl, den Hasen in die Tiefe des Waldes tragend: „Die Liebe ist eine Krankheit, von der man sich wünschte, dass es ein Heilmittel gegen sie gäbe, aber es gibt keines.“
Ich konnte kaum die Hand vor Augen sehen, so dunkel war es um uns geworden. Es sollte für lange Zeit so bleiben, mehr als nur in dem einen Sinne.
***
Andererseits tat mir der Umgang mit Heinrich Heine gut. Er führte mich quasi zu mir selbst. Besonders charmant empfand ich sein geistreiches Wort, da er den Hasen späterhin wieder in die Freiheit entließ: „Gehe hin und vermehre dich.“
Der Hase hoppelte auf und davon.
„Das Gleiche möchte ich im Übrigen auch dir empfehlen“, sah mich Heine an, indem er sich aufrichtete.
„Ich soll mich vermehren?“, fragte ich zurück.
„Zumindest solltest du in Erwägung ziehen, dass Liebe noch immer das beste Heilmittel gegen Liebe ist.“
Wir kamen langsam zu dem Aussichtspunkt in Da-und-da, den ich Heine zu zeigen beabsichtigte. Die Stadt lag dunkel unter der bewaldeten Anhöhe, an deren äußersten Rande wir standen, und ruhig floss der Fluß, der der ganzen Region seinen Namen gibt, auf seine ewig alte Weise durch die Finsternis.
„So sehe ich diesen Fluss auch einmal wieder“, sprach der unsterbliche Heine in der Nacht.
Ich schob mir eine Zigarette zwischen die Lippen und steckte sie mir an.
„Ich habe nie geraucht“, kommentierte mein Begleiter kritisch.
„Ich weiß“, sagte ich. „Ist ’ne Zivilisationskrankheit.“
„Krankheit schon“, erachtete der verehrte Dichter, „doch was das mit Zivilisation zu tun hat, entzieht sich mir.“
„Ach, das Rauchen ist wie mit der Liebe“, sagte ich, um anschließend ein Gedicht von mir zu zitieren:
“It’s an addiction you always want to quit.“
Worauf Heine meinte: „Ce ca”, und vielleicht, wer weiß, lassen wir es hierbei bewenden, warum denn eigentlich nicht?
MY DEAR
My dear,
Love is like shrimp –
It’s good and it’s pink, but spoils quite quickly.
Besides,
Love is like a cat –
First it’s purring, then it scratches.
But you know,
What the most important thing about love is,
My dear?
Love is like smoking –
It’s an addiction you always want to quit.