Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu sagt, dass eine „endgültige Entscheidung“ über einen Angriff auf das Atomprogramm des Iran in diesem Herbst unmittelbar bevorsteht, obwohl die USA bezweifeln, dass Teheran irgendwo in der Nähe einer „Ausbruchs“-Fähigkeit ist, und Jerusalem die nötigen Waffen und Logistik fehlen. In der Zwischenzeit hat der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan ähnlich unheilvolle Pläne, um ins syrische Kurdistan einzumarschieren – scheinbar blind für die fatalen Folgen seiner neo-osmanischen Visionen.
Von Pepe Escobar, Übersetzung Lars Schall
Der 1954 geborene Pepe Escobar aus Sao Paulo, Brasilien ist einer der herausragendsten Journalisten unserer Zeit. Escobar, der vom früheren CIA-Analysten Ray McGovern schlichtweg “der Beste“ genannt wird, arbeitet für die Asia Times und ist ein Analyst von The Real News. Darüber hinaus ist er der Autor dreier Bücher: Globalistan: How the Globalized World is Dissolving into Liquid War, Red Zone Blues: a snapshot of Baghdad during the surge und Obama does Globalistan.
Er hat von verschiedenen Ländern und Konflikten berichtet, darunter Afghanistan, Pakistan, Irak, Iran, Zentralasien, U.S.A. und China. Für Asia Times Online ist er als ‘The Roving Eye’, das heißt: “Das Wandernde Auge“ unterwegs, um vor allem geopolitische Weltereignisse, aber auch die Art, wie sie in den Medien präsentiert werden, zu diskutieren. Diese Kolumne übersetzen wir mit freundlicher und ausdrücklicher Autorisierung von Pepe Escobar exklusiv für LarsSchall.com ins Deutsche.
Darüber hinaus möchten wir als Ergänzung auf dieses Interview mit Pepe Escobar auf LarsSchall.com hinweisen, “Shifting Ground for Vital Resources“.
DAS WANDERNDE AUGE
Der tödliche Israeli und der verrückte Türke
von Pepe Escobar
Die Insassen beherrschen – oder sie denken, sie beherrschen – die Anstalt.
Wie Asia Times Online bereits berichtete (Siehe Bomb Iran fever, 8. August 2012), könnte Tel Aviv Zentimeter entfernt davon sein, den schon erklärten wirtschaftlichen Krieg gegen den Iran in einen heißen Krieg zu verwandeln.
Werfen Sie einen Blick auf diesen Wahnsinn: [1] Das Bibi-Barak-Kriegshetze-Duo (Ministerpräsident Bibi Netanjahu und Verteidigungsminister Ehud Barak) könnte alles aufs Spiel setzen mit einem Angriff auf den Iran – gegen den Rat von Israels Top-Verteidigungs- und Geheimdienst-Experten.
Barak könnte vielleicht sogar Zugang zu geheimer US-Nachrichtendienstinformation gehabt haben. Er sagte, „es gibt wahrscheinlich wirklich einen amerikanischen Geheimdienst-Bericht – ich weiß nicht, ob es sich um einen NIE [National Intelligence Estimate / US-Geheimdienste-Einschätzung] handelt -, der seinen Weg in den Führungsbüros [in Washington] macht.“
„Wahrscheinlich?“ „Wirklich?“ „Ich weiß nicht?“ Und dieser Wald von Hypothesen ist eine Rechtfertigung für den heißen Krieg?
Dann fügte Barak hinzu: „Soweit wir wissen, bringt es die amerikanische Einschätzung sehr viel näher an unsere heran.“
Nicht wirklich. Hier ist die Antwort von einem Weißen Haus-Sprechers des Nationalen Sicherheitsrates; die US-Geheimdienste-Einschätzung bleibt die gleiche. Das heißt: Iran leitet kein Atomwaffenprogramm.
Und wenn es einer zusätzlichen Bestätigung bedurfte, so scheint Washington ein ziemlich klares Bild des nuklearen Fortschritts des Iran zu haben. [2]
Laut dem Sprecher des Weißen Hauses Jay Carney: „Wir würden wissen, ob und wann Iran einen sogenannten Ausbruchsschritt (breakout move) in Richtung des Erwerbs einer Waffe gemacht hat.“
Für den tödlichen Bibi ist das offensichtlich nicht genug. Es spielt keine Rolle, dass – technisch und logistisch – Israel einfach nicht das Zeug hat, das gebraucht wird, um einen erfolgreichen Angriff auf die iranischen Atomanlagen zu führen.
Werfen Sie einen Blick auf diese prägnanten Infografiken. [3] Für Anfänger: Israel verfügt nicht über die neueste Generation der MOP GBU-57A Bunker-Bomben, um tief unter der Erde iranische Anlagen zu treffen. Es hat nicht die Northrop Grumman B-2 Stealth-Bomber, um sie abzuliefern. Und es hat nicht genug Lockheed Martin KC-130 Flug-Tanker (nur 5, die USA: 80) zum Betanken seiner angreifenden F-15 und F-16.
Es gibt keine Beweise dafür, dass die Obama-Administration das Pentagon autorisieren wird, irgendetwas von dem oben erwähnten an das Bibi-Barak-Duo in absehbarer Zeit zu liefern.
Und lassen Sie uns ein wenig Vernunft in diesen Wahnsinn einführen – mit freundlicher Genehmigung von good ol‘ Kalter Krieger Jewgeni Primakow, ehemaliger KGB-Supremo und russischer Außenminister. Primakow erzählt, wie es ist: macht nur, greift den Iran an, und dann werden sie unvermeidlich nach einer Bombe streben. [4]
In der Zwischenzeit in Ankara …
Ist die Türkei kurz davor, den 9. (kurdischen) Kreis der Hölle zu betreten?
US-Außenministerin Hillary Clinton ist gerade in einer sehr libyschen „Wir kamen, wir sahen, er starb“-Stimmung in der Türkei gewesen. Es ist, als ob sie ihre Engel des Todes-Rolle wieder gespielt habe, den Vorsitz über den bevorstehenden Niedergang von Syriens Bashar al-Assad führend.
Nicht so schnell. Das gleiche gilt für die Beeinflussung des US-Außenministeriums auf die Shakespeare-Entscheidung des türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan, ob in das westliche / syrische Kurdistan “eingedrungen“ oder „nicht eingedrungen“ wird.
Tatsache ist, die Partei der AKP in Ankara wird das türkische Parlament nicht darum bitten. Sie würden einfach einmarschieren im syrischen Kurdistan – selbst mit einer Reihe von türkischen Generäle, die im Gefängnis schmachten, weil ihnen ein Putsch vorgeworfen wird. Drei türkische Brigaden, Panzer und Artillerie, sind bereits nur zwei Kilometer von der syrischen Grenze entfernt.
Ankara ist im irakischen Kurdistan dutzende Male in der heißen Verfolgung von PKK-Guerillas eingedrungen. Die Handlung verdichtet sich, denn zur gleichen Zeit unterhält Ankara sehr enge Handels- und Diplomaten-Beziehungen mit der kurdischen Regionalregierung (KRG). In der Tat tritt Ankara nun gegen die Nuri al-Maliki-Regierung in Bagdad auf, da es die direkte Einfuhr kurdischen Öls begonnen hat, unter Umgehung der irakischen Zentralregierung.
Der türkische Außenminister Ahmet Davutoglu ging persönlich nach Kirkuk und Erbil, um den Deal mit Massoud Barzani, dem Präsidenten der kurdischen Regionalregierung, zu schließen.
In Pipelinestan-Begriffen ausgedrückt ist dies gewaltig: dem Big Oil des Westens juckt es absolut, so viel Energie aus Irak-Kurdistan zu bekommen (ebenso auch aus Aserbaidschan), wie nur irgend möglich – unter Umgehung des Iran und Russlands.
Eine türkische „Invasion“ der syrischen Kurdistan wird kein allzu großes Problem in Bezug auf die türkischen Beziehungen zu diesem Ausbund von Demokratie, dem Golf-Kooperationsrat, sein. Immerhin arbeiten Katar und das Haus Saud Seite an Seite mit der Türkei an der totalen Destabilisierung Syriens.
Aber das Assad-Regime wird dies als ein Krieg gegen Syrien ansehen – nicht nur des syrischen Kurdistan. Immerhing beherbergt die Türkei nicht nur den syrischen Nationalrat (SNC), sondern auch Tausende der nicht gerade freien syrische Armee-Banden, die Salafi-Dschihadisten enthalten. Die Türkei ist ihre logistische Basis.
Und was passiert, wenn es eine Flut von Leichensäcken zurück nach Ankara und Istanbul verschickt werden?
Das Machtspiel des verrückten Türken Erdogan könnte zusammenbrechen. Die türkische Armee, die Geschäftsbourgeoisie, die Bürokratie – sie alle sind zunehmend seine napoleonischen Träume leid: die Beherbergung der FSA, den Schmuggel von Waffen nach Syrien neben Katar und den Saudis, den Einsatz von Flak-Batterien und sogar Raketen an der Grenze, die Drohung des Einmarsches ins syrische Kurdistan. Das ist ein bisschen zu viel.
Aber dann wieder vielleicht auch nicht. Ankaras großes Bild in der Wunschvorstellung – in einer neo-osmanischen Laune – wäre sicherlich auch eine Art von wirtschaftlicher Annexion des Nordirak und des Nordosten Syriens; beide sind zufällig energiereich – und die Türkei benötigt die Energie dringend. Das Problem ist, dass sie beide hauptsächlich von Kurden bewohnt sind.
Selbst die iranischen Kurden rühren sich bereits. [5] Was passiert, wenn 17 Millionen türkische Kurden beschließen, auch in die Aktion einzutreten? Erdogan könnte auf dem Weg sein, vom ultimativen Albtraum der Türkei konfrontiert sein: der Entstehung Groß-Kurdistans.
Die Türkei grenzt an den Irak, Syrien und den Iran. Die Kurden beginnen, die historische Wende zu spüren. Rick Rozoff bei Global Research [6] argumentiert richtig, dass „die Türkei bietet der NATO – und im Rahmen der NATO dem Pentagon – direkten Zugang zu diesen drei Nationen.“ Aber das mag weit über „eine neue Neuaufteilung der Levante sein, die dem Anglo-Französischen Sykes-Picot-Abkommen von 1916 nachempfunden ist“, hinausgehen.
Die neo-osmanische Türkei, die NATO und das Pentagon könnten sich zumindest für den Moment auf der gleichen Seite befinden. Aber eine Balkanisierung der Levante kann nur das Entstehen von Groß-Kurdistan voranbringen. Es könnte Washingtons strategische Interessen vorantreiben. Aber wenn Erdogan gegenüber der neuen Realität erwacht – zu der seine eigene Politik beigetragen haben wird -, könnte es zu spät sein.
Anmerkungen:
1. Decision by Netanyahu, Barak to strike Iran is almost final – Israel TV, Times of Israel, Aug 13, 2012
2. We would know if Iran had made ‘a breakout’ to the bomb, White House says, Times of Israel, Aug 13, 2012
3. Likely Scenarios for Israeli Attack Against Iran, RIANOVOSTI, Aug 13, 2012
4. Iran to Make own WMD if Israel Delivers Airstrike – expert, RIANOVOSTI, Aug 08, 2012
5. Kurds’ have the right to demand federal areas: Kurdish Iranian MP, Al Arabiya News, August 12, 2012
6. Turkey: NATO’s Neo-Ottoman Spearhead in the Middle East, Global Research, August 8, 2012