Die Schrift, die als “Die Theorie und Praxis des oligarchischen Kollektivismus“ im Roman 1984 figuriert, verdient es, immer und immer wieder betrachtet zu werden. Sie ist ein Spiegel unserer Zeit. Daher ein kleiner Auszug daraus.
Von Jesse’s Café Américain, Einführung u. Übersetzung Lars Schall
“Nichts mutet trauriger an auf der Welt als all das Potential der Menschheit,
das ungenutzt bleibt und vergeudet wird, statt fliegen lernen zu dürfen.“
Lars Schall
Einführung des Übersetzers:
In seinem Roman 1984 platzierte George Orwell eine rebellische Schrift, die sich Die Theorie und Praxis des oligarchischen Kollektivismus nennt. Diese stammt angeblich von einer Figur namens Emmanuel Goldstein. In ihr erklärt Goldstein das innere Wesen des Gesellschaftssystems, das in 1984 vorgestellt wird. Die Schrift dient als ideologische Inspiration der Konterrevolutionäre, die das herrschende System des “Großen Bruders“ angeblich stürzen wollen. Der Clou: die Schrift wurde von der herrschenden Partei selbst verfasst; Goldstein ist höchstwahrscheinlich eine von der Partei erfundene Figur; und die Gruppe der Konterrevolutionäre, die “Bruderschaft“, stellt eine bloße Illusion dar, die System-Abtrünnige anziehen soll, so dass die Gedankenpolizei die Gedankenverbrecher umso bequemer unschädlich zu machen vermag. Der Clou geht jedoch weiter, denn die Schrift enthält gleichwohl entlarvende Tatsachen und Wahrheiten über die Welt von 1984, die sich in einem fortwährenden Kriegszustand befindet, der künstlich hergestellt und beibehalten wird – insbesondere durch das Instrument der Propaganda.
Vor ein paar Tagen veröffentlichte Jesse, der Patron der Website Café Américain, einen kleinen Auszug aus der Theorie und Praxis des oligarchischen Kollektivismus, um daran anlehnend einige eigene Gedanken zur Malaise unserer Zeit vorzustellen. (1) Diese beiden Gedankenblöcke folgen hier nach Absprache mit meinem Freund Jesse in meiner persönlichen Übersetzung.
Soziale Klassen in 1984
Die Theorie und Praxis des oligarchischen Kollektivismus
von Emmanuel Goldstein (George Orwell)
“…(W)enn alle gleichermaßen Muße und Sicherheit genießen würden, müsste die große Masse der Menschen, die normalerweise durch ihre Armut abgestumpft ist, selbständig denken lernen, sich politisch bewusst werden und so die herrschende Oligarchie beseitigen. Daher ist eine hierarchisch geordnete Gesellschaft langfristig nur auf der Grundlage von Armut und Unwissenheit möglich.
Angesichts dessen, dass die umfangreiche, mechanisierte Produktion nicht auf einmal eliminiert werden konnte, sobald sie erfunden war, arrangiert die Partei die Zerstörung der überschüssigen Güter, bevor diese die Massen zu komfortabel und somit, auf lange Sicht, zu intelligent werden lassen.
Deshalb ist ein fortwährender Krieg stets so geplant, dass er jeden Überschuss auffrisst, der existieren könnte, nachdem die bloßen Bedürfnisse der Bevölkerung befriedigt sind. Es ist eine bewusst vorgenommene Politik, um selbst die bevorzugten Gruppen nahe am Rande der Not zu halten, denn ein allgemeiner Zustand der Knappheit steigert die Wichtigkeit von kleinen Privilegien und vergrößert somit die Unterscheidung der einen Gruppe von der anderen…
Das Wesen der oligarchischen Herrschaft ist keine Vater-Sohn-Vererbung, sondern die Fortdauer einer bestimmten Weltsicht und einer bestimmten Lebensweise…Eine herrschende Gruppe ist so lange eine herrschende Gruppe, so lange sie ihre Nachfolger nominieren kann…
Wer die Macht ausübt ist nicht wichtig, vorausgesetzt, dass die hierarchische Struktur dieselbe bleibt.“
Soweit der Auszug aus Die Theorie und Praxis des oligarchischen Kollektivismus. Sodann folgen nun die Gedanken meines Freundes Jesse:
Das sozio-politische Kontinuum
von Jesse
Eine Glaubwürdigkeitsfalle ist dann gegeben, wenn die regulatorischen, politischen und informativen Funktionen einer Gesellschaft durch Korruption und Betrug kompromittiert worden sind, so dass die Führung nicht wirksam reformieren oder die Situation auch nur ehrlich adressieren kann, ohne eine breite Beeinträchtigung der Machtstruktur, einschließlich für sich selbst, hervorzurufen.
Der Status quo toleriert die Korruption und den Betrug, weil sie mindestens indirekt von ihnen profitiert haben, und sie möchten dies auch weiterhin tun. Selbst relativ ehrliche Reformer innerhalb der Machtstruktur sind anfällig für verschiedene Formen der weichen Erpressung und Nötigung.
Und so wird eine gescheiterte Politik und ihr Unterstützungssystem nahezu autark, lange nachdem sie von den Leuten als gescheitert angesehen wird, und indem sie scheitert, wird sie kontraproduktiv. Das Scheitern zuzugeben ist keine Option für diejenigen, die ihre Macht von diesem System erhalten.
Die Kontinuität der strukturellen Hierarchie muss daher unter allen Umständen aufrechtgehalten werden, selbst bis hin zu dem Punkt, dass sie zu einer eklatanten Heuchelei wird.
Kommt Ihnen all das vertraut vor?
(1) Siehe “Gold Daily And Silver Weekly Charts – Orwell’s Final Warning“, 26. Oktober 2012, http://jessescrossroadscafe.blogspot.de/2012/10/gold-daily-and-silver-weekly-charts_26.html