Ein Rohstoff-Boom, der durch China angetrieben wurde und die lateinamerikanischen Finanzen in den frühen 2000er Jahren verbesserte, war die Genese dafür, dass der globale Süden endlich der jahrzehntelangen wirtschaftlichen Unterdrückung, die vom Westen institutionalisiert wurde, trotzte. Die politische Front, die sich seither herauskristallisiert hat, ist zu schwach, um der militärischen Hegemonie der Vereinigten Staaten und der NATO zu begegnen, aber sie bietet eine Alternative zur stagnierenden Welt des neoliberalen Imperialismus.
Von Pepe Escobar, Übersetzung Lars Schall
Der 1954 geborene Pepe Escobar aus Sao Paulo, Brasilien ist einer der herausragendsten Journalisten unserer Zeit. Escobar, der vom früheren CIA-Analysten Ray McGovern schlichtweg “der Beste“ genannt wird, arbeitet für die Asia Times Online. Darüber hinaus ist er der Autor dreier Bücher: Globalistan: How the Globalized World is Dissolving into Liquid War, Red Zone Blues: a snapshot of Baghdad during the surge und Obama does Globalistan.
Escobar war als Auslandskorrespondent seit 1985 u.a. in London, Mailand, Los Angeles, Paris, Singapur und Bangkok tätig. Seit den späten 1990er Jahren hat er sich auf die Berichterstattung von geopolitischen Geschichten aus dem Nahen Osten und Zentralasien spezialisiert. In diesem Rahmen hat er im letzten Jahrzehnt aus Afghanistan, Pakistan, Irak, Iran, den zentralasiatischen Republiken, China und den USA berichtet. Im Frühjahr/Sommer 2001 war er in Afghanistan / Pakistan, hat den militärischen Führer der Anti-Taliban-Nordallianz, Ahmad Shah Massud, nur wenige Wochen vor dessen Ermordung interviewt, und erreichte als einer der ersten Journalisten die afghanische Hauptstadt Kabul nach dem Rückzug der Taliban. Er ist ein ausgewiesener Experte für das Netzwerk von Pipelines, das die Länder des Nahen und Mittleren Ostens, Zentralasiens, Russlands und Europas umgibt – dem von ihm so getauften “Pipelineistan”.
Für Asia Times Online ist er als ‘The Roving Eye’, das heißt: “Das Wandernde Auge“ unterwegs, um vor allem geopolitische Weltereignisse, aber auch die Art, wie sie in den Medien präsentiert werden, zu diskutieren. Diese Kolumne übersetzen wir mit freundlicher und ausdrücklicher Autorisierung von Pepe Escobar exklusiv für LarsSchall.com ins Deutsche.
Darüber hinaus möchten wir als Ergänzung auf dieses Interview mit Pepe Escobar auf LarsSchall.com hinweisen, “Shifting Ground for Vital Resources“.
Eine Gesamtübersicht der Artikel von Pepe Escobar auf LarsSchall.com findet sich hier.
DAS WANDERNDE AUGE
Auch der globale Süden steigt auf (1)
von Pepe Escobar
Buchbesprechung zu:
The Poorer Nations: A Possible History of the Global South (Die ärmeren Nationen: Eine mögliche Geschichte des Südens) von Vijay Prashad
Es ist nicht zu weit hergeholt, sich vorzustellen, dass Walter Benjamins Engel der Geschichte der Versuchung erliegt und betont, dass die Zeit des globalen Südens endlich gekommen ist.
Oh ja, es wird eine lange, beschwerliche und kurvenreiche Straße werden. Aber wenn die Google/Facebook-Generation nur ein Lehrbuch bräuchte, das den Stoff, aus dem die Träume, Irrungen und Wirrungen der Dritten Welt im frühen 21. Jahrhundert gemacht sind, en detail beschreibt, so wäre es dieses, Vijay Prashads soeben veröffentlichtes Buch The Poorer Nations.
Nennen Sie‘s den post-modernen, digitalen Nachfolger von Frantz Fanons Klassiker The Wretched of the Earth (Die Verdammten dieser Erde).
Dies ist ein absolut essentielles Buch, das zusammen mit einem anderen Grund zur Freude gelesen werden sollte, From the Ruins of Empire: The Revolt Against the West and the Remaking of Asia, geschrieben vom globalen Asiaten Pankaj Mishra, das Schlüsselfiguren wie Jamal al-Din al-Afghani, Liang Qichao und Rabindranath Tagore verwendet, um eine außergewöhnliche Geschichte zu erzählen.
Prashad, Direktor für internationale Studien am Trinity College, Connecticut, und Autor des prächtigen The Darker Nations, das als Präambel zu diesem Buch gelesen werden sollte, stellt die Weichen von Anfang an richtig – das erforderliche Fanon-Zitat verwendend. (2) Was sich um 1961 konfigurierte, war ein Kampf zwischen dem Dritte Welt-Projekt („für Frieden, Brot und Gerechtigkeit“) und dem Atlantischen Projekt. Wichtige Akteure: die Bewegung der blockfreien Staaten (Non-Aligned Movement, NAM), das de facto Sekretariat des Dritte Welt-Projekts, und die Gruppe der 77 Entwicklungsländer, die 1964 gegründet wurde, um im Namen der NAM bei den Vereinten Nationen zu agieren.
Die Gründer der NAM genossen Kultstatus in der post-kolonialen Welt: Jawaharlal Nehru in Indien, Gamal Abdel Nasser in Ägypten, Sukarno in Indonesien, Josip Broz Tito in Jugoslawien. Doch sie wussten, dass dies ein harter Kampf war. Wie Prashad bemerkt, „die UN waren von den fünf ständigen Mitgliedern des Sicherheitsrats in Geiselhaft genommen worden. Der IWF [Internationaler Währungsfonds] und die Weltbank waren von den atlantischen Mächten gefangen genommen worden, und GATT [Allgemeines Zoll- und Handelsabkommen, Vorläufer der World Trade Organization] wurde entwickelt, um jeden Versuch der neuen Nationen, die internationale Wirtschaftsordnung zu revidieren, zu untergraben.“
Was das Atlantische Projekt angeht, so würde ein Zitat von Henry Kissinger – dem Co-Zerstörer Kambodschas, Auslöser der Führung von Augusto Pinochet in Chile, angewiderten Saudi-Verbündeten (die „nutzlosesten und feigsten unter den Arabern“) und Ober-Lobpreiser des iranischen Shah („ein harter, mieser Kerl“) – aus dem Jahre 1969 ausreichen: „Vom Süden kann nichts Wichtiges kommen. Die Achse der Geschichte beginnt in Moskau, geht gen Bonn, wechselt herüber nach Washington, und geht dann nach Tokio. Was im Süden passiert, ist ohne Bedeutung.“
Die Atlantiker waren heftig gegen das „ohne Bedeutung“-Dritte Welt-Projekt, aber auch gegen die Sozialdemokratie und den Kommunismus. Ihr Heiliger Gral bestand darin, in leichtgemachten Gewinnen durch eine neue globale Geographie der Produktion zu schwelgen, den „technologischen Veränderungen, die es den Unternehmen ermöglichten, aus dem Lohngefälle Vorteile herauszuschlagen“ – vor allem aus jenen sehr niedrigen Löhnen, die in ganz Ostasien gezahlt wurden.
Der Entstehung des Neoliberalismus war also die Bühne bereitet. Hier bewegt sich Prashad parallel zum unverzichtbaren David Harvey, indem er detailliert widergibt, wie der globale Süden dafür reif wurde, (wieder) voll ausgebeutet zu werden: Bye Bye den nationalen Befreiungsideen des kollektiven Guts.
Haltet die Barbaren draussen
Indem der IWF derzeit (neben der Europäischen Kommission und der Europäischen Zentralbank) Teil der Troika ist, die den meisten westeuropäischen Ländern einen Sparkurs diktiert, ist es leicht zu vergessen, dass die Dinge schon im Jahre 1944 ziemlich krumm waren. Die Entwicklungsländer hatten in Bretton Woods rein gar nichts mitzureden, von irgendeiner Art von Kontrolle über den fünfköpfigen UN-Sicherheitsrat ganz zu schweigen. Es war das Schweigen der Lämmer; die Wölfe herrschten, und die Ungleichheit wurde in Stein gemeißelt.
Prashad fährt mit den unverzichtbaren Details fort, wie der US-Dollar effektiv zur Welt-Währung wurde, wobei die USA den Preis des Dollar ohne Rücksicht auf die Konsequenzen weltweit swingen ließen; die Bildung der Gruppe der Sieben im Wesentlichen als ein Anti-Entwicklungsländer-Mechanismus (und nicht anti-sowjetischen); und natürlich die gefürchtete Trilaterale Kommission, die von Chase Manhattans David Rockefeller eingerichtet wurde, um den Willen des Nordens gegen den Süden durchzusetzen.
Und raten Sie mal, wer der intellektuelle Architekt der Trilateralen war? Der unaussprechliche Zbigniew Brzezinski, der Consigliere des späteren Präsidenten Jimmy Carter. Dr. Zbig wollte “die Ansteckungsgefahr der globalen Anarchie eindämmen“. Teile und herrsche, mal wieder; die Peripherie musste auf ihren Platz verwiesen werden.
Übrigens sollte man immer daran denken, dass Dr. Zbig, der 2008 außenpolitischer Berater von Barack Obama wurde, in seinem 1997er Epos The Grand Chessboard (auf Deutsch als “Die einzige Weltmacht: Amerikas Strategie der Vorherrschaft“ erschienen, Anm. des Übersetzers) schrieb: „Die drei großen Imperative imperialer Geostrategie bestehen darin, unter den Vasallen geheime Absprachen zu verhindern und ihre Sicherheitsabhängigkeit aufrechtzuhalten, tributpflichtige Staaten fügsam und geschützt zu halten, und die Barbaren davon abzuhalten, zusammenzukommen.“ Für lange Zeit wurden die „Vasallen“ leichterweise gezügelt; aber Dr. Zbig, Kissinger einen Schritt voraus seiend, plante bereits, wie man die beiden wichtigsten „Barbaren“, die aufsteigenden eurasischen Mächte Russland und China, eindämmen könnte.
Die Gruppe der Sieben war ohnehin ein voller Erfolg, die überall ihre „Theorie der Regierungsführung“ anschob, welche – von wem sonst – von der Bretton Woods-Mafia umgesetzt wurde. Prashad definiert sie geschickt: „Was unter dem Namen des Neoliberalismus daherkam, war weniger eine kohärente ökonomische Doktrin, als vielmehr eine ziemlich einfache Kampagne der besitzenden Klassen, um ihre Position der Dominanz aufrechtzuhalten oder wiederherzustellen“, und zwar über die von David Harvey so bezeichnete „Akkumulation durch Enteignung“, die nun auch Millionen von Europäern unter dem Codenamen „Austerität“ bekannt ist.
Die Zahlen erzählen die Geschichte. Im Jahr 1981 betrug der Netto-Kapitalfluss in die Dritte Welt $3.52 Milliarden. Im Jahr 1987 verließen $30.7 Milliarden die Dritten Welt in Richtung westliche Banken. Lobet den Herrn und sein in Stein gemeißeltes Gesetz, welches auch als strukturelle Anpassung (Structural Adjustment) bekannt ist, das auf „Konditionalität“ gründet (wilde Privatisierung, Deregulierung, Abbau sozialer Dienstleistungen, “Liberalisierung“ von Finanzdienstleistungen).
In Anlehnung an Dylan, wenn man nichts hat, hat man immer noch dieses Nichts zu verlieren. Es gab nie eine politische Strategie des Nordens, um mit der Schuldenkrise der 1980er Jahre umzugehen. Den Lämmern des globalen Südens wurde in einer traurigen Prozession nur erlaubt, ihre der strukturellen Anpassung geweihte Hostie einer nach dem anderen zu erhalten.
Aber auch das war noch nicht genug. Mit dem Zerfall der UdSSR war Washington frei, die Doktrin der Full Spectrum Dominance zu entwickeln. Diejenigen, die nicht vollständig kuschten, wurden als „Schurkenstaaten“ gebrandmarkt – wie Kuba, Iran, Irak, Libyen, Nordkorea, und eine Weile lang sogar Malaysia (weil es sich nicht dem IWF beugte).
Doch dann begann der globale Süden langsam, aber sicher aufzusteigen. Prashad detailliert die Gründe – der Rohstoff-Boom, der durch China angetrieben wurde; Rohstoff-Gewinne, die die lateinamerikanischen Finanzen verbesserten; mehr ausländische Direktinvestitionen, die durch die Welt wanderten. Der globale Süden begann, untereinander mehr Handel zu treiben.
Dann, im Juni 2003, entstand an den Rändern des Treffens der Gruppe der Acht in Evian, Frankreich, etwas, das IBSA (Indien-Brasilien-Südafrika-Dialog) genannt wurde. IBSA war eifrig darauf aus, „den Nutzen der Globalisierung zu maximieren“ und nachhaltiges Wirtschaftswachstum zu fördern. Brasiliens Außenminister Celso Amorim definierte dies damals als „eine Ideologie im besten Sinne des Wortes – eine Ideologie der Demokratie, Vielfalt, Toleranz, eine Suche nach Zusammenarbeit.“
Parallel dazu boomte China. Es ist wichtig, an dieser Stelle an jene schicksalsträchtige Reise im November 1978 von Deng Xiaoping nach Singapur zu erinnern, wo er von Lee Kuan Yew bewirtet wurde; Prashad hätte ein ganzes Kapitel darum herum aufbauen können. Dies gab den Ausschlag. Deng wusste sofort, dass er die Guanxi („Verbindungen“) der chinesischen Diaspora zu melken hatte. Ich werde meinen ersten eigenen Besuch in Shenzhen nie vergessen, der nur einen Monat nach der sagenumwobenen Süd-Tour Dengs im Januar 1992 stattfand. Das war der Zeitpunkt, als der Boom richtig losging. Zu der Zeit fühlte ich mich, als steckte ich bis zum Hals im maoistischen China.
Schnell voraus zum China, das nunmehr hilft, Afrika zu entwickeln. Weite Teile der Dritten Welt würden eine Übernahme eines zhongguo moshi – das chinesische Modell – nicht blind für sich in Betracht ziehen. Es verhält sich mehr wie bei diesem wunderbaren, von Prashad vorgestellten Ausspruch von Donald Kaberuka, einem ehemaligen Finanzminister Ruandas und jetzigen Präsidenten der Afrikanischen Entwicklungsbank: „Wir können von [den Chinesen] lernen, wie wir unsere Handelspolitik organisieren, wie wir uns von niedrigen hin zu mittleren Einkommen bewegen, wie wir unsere Kinder in Fähigkeiten und Bereichen unterrichten, die sich in nur ein paar Jahren auszahlen werden.“
BRIC um BRIC
Was uns zu den BRICS bringt, die als eine Gruppe im Jahr 2009 aus der BRIC-IBSA-Union geschaffen wurde – und jetzt die Ober-Lokomotive des globalen Südens ist.
Bis dahin war “beschuldige China“ bereits zwangsläufig zu einer etablierten Kunst in Washington geworden; die Chinesen müssen unbedingt Verbraucher werden. Sie sind es, und sie werden es – aber in ihrem eigenen Rhythmus, und ihrem eigenen politischen Modell folgend.
Selbst der IWF gibt bereits zu, dass die USA bis 2016 aufhören könnten, die größte Volkswirtschaft der Welt zu sein. Der große Fernand Braudel lag also schon richtig, als er The Perspective of the World: Civilization and Capitalism, Fifteenth- Eighteenth Century schrieb, indem er betonte, dass dies das „Zeichen des Herbstes“ für die Atlantische Hegemonie sein würde.
Natürlich gibt es große Probleme mit den BRICS, wie Prashad im Detail beschreibt. Ihre Innenpolitiken können in der Tat als eine Art „Neoliberalismus mit südlichen Eigenschaften“ interpretiert werden. Sie sind weit davon entfernt, eine ideologische Alternative zum Neoliberalismus zu sein. Sie waren hilflos, der überwältigenden militärischen Hegemonie der USA und der North Atlantic Treaty Organization (NATO) entgegenzuwirken (siehe zum Beispiel das Libyen-Fiasko). Und sie sind nicht der Embryo einer revolutionären Veränderung der Weltordnung.
Aber zumindest sind sie es, die „einen Hauch frischer Luft ermöglichen, um der stagnierenden Welt des neoliberalen Imperialismus Sauerstoff zuzuführen“.
Die frische Luft wird in Form einer neuen Entwicklungsbank zirkulieren, eine BRICS-Bank des Südens als Version der südamerikanischen Banco del Sur, die im Jahr 2009 gegründet wurde (hier ist Prashads wichtige Stellungnahme dazu). China und Brasilien haben einen Währungsswap-Deal im Wert von $30 Milliarden eingefädelt, um für ihre Handelsgeschäfte unter Umgehung des US-Dollar zu bezahlen. Peking und Moskau vertiefen ihre strategische Partnerschaft. (Siehe BRICS auf der Überholspur.)
Die BRICS, so wie sie zusammengesetzt sind – drei große Rohstoffproduzenten plus zwei wichtige Rohstoffverbraucher, die einen Ausweg aus einer vom Westen durchgeführten Katastrophe zu finden versuchen –, sind nur ein Anfang. Sie entfalten sich bereits als mächtiger geopolitischer Akteur, der die Multi-Polarität betont. Sie werden mit den nächsten BRICS verbunden werden – MIST (Mexiko, Indonesien, Südkorea und die Türkei). Und nicht zu vergessen Iran. Zeit für BRICS-MIIST?
Was klar offensichtlich ist, ist, dass der globale Süden genug hatte – von den Verwüstungen des Casino-Turbo-Kapitalismus bis hin zur NATO, die von Nordafrika bis Vorderasien den Robocop spielt, um von der Umkreisung Eurasiens durch diese Dr. Strangelove-Chimäre gar nicht erst zu sprechen – einem Raketenschild.
Der globale Süden bleibt weiterhin voller Absurditäten; man muss nur an die Öl- und Erdgas-GCC-Petro-Monarchien denken – diese Vorbilder der „Demokratie“ -, die jetzt als Anhängsel der NATO konfigurieren. Nur wenige Entwicklungen waren in letzter Zeit so erschreckend, wie das Lecken der NATO-Stiefel durch die Arabische Liga, indem sie gegen das Völkerrecht verstieß, um zwielichtige syrische „Rebellen“ in den Stuhl eines souveränen Staates zu hieven, und zwar in den eines ihrer eigenen Gründungsmitglieder.
Seltsame Szenen in der Goldmine
Der Niedergang des Neoliberalismus wird blutig werden – und er wird einige Zeit dauern. Prashad versucht, eine objektive Analyse im Hinblick auf die Einheit des globalen Südens vorzunehmen, indem er auf die Arbeit des indischen Marxisten Prabhat Patnaik aufbaut.
Patnaik ist ein solider Kerl. Er weiß, dass „ein koordinierter globaler Widerstand nicht am Horizont steht“. Stattdessen „betont er die Zentralität des Aufbaus von Widerstand innerhalb des Nationalstaates, und seine Analyse kann leicht auf Regionen ausgedehnt werden (er schreibt hauptsächlich über Indien, aber die Analyse, die er bereitstellt, ist gleichermaßen anwendbar auf die bolivarischen Experimente in Lateinamerika)“.
Die Straßenkarte sieht also vor, die „bäuerliche Frage“ anzupacken, die sich im Wesentlichen um Land und Rechte dreht, und auf die Konzentration auf die unmittelbaren Kämpfe zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen. Zwangsläufig muss sich Prashad auf den bolivianischen Vizepräsident Alvaro Garcia Linera beziehen, einem der besten zeitgenössischen lateinamerikanischen Intellektuellen.
In vielen Aspekten ist die Emanzipation des globalen Südens am weitesten in Teilen Südamerikas gediehen; ich war äußerst beeindruckt, als ich im Frühjahr 2008 in Bolivien war. Prashad fasst Lineras Analyse, wie sich der Prozess entwickelt, gut zusammen:
Es beginnt mit einer Krise des Staates, die es einem “sozialen Dissidenten-Block“ erlaubt, die Menschen in ein politisches Projekt hinein zu mobilisieren. Es entwickelt sich ein “katastrophales Patt“ zwischen dem Block der Macht und dem Block der Menschen, das im Fall von Lateinamerika für den Moment zugunsten der Seite der Menschen gelöst werden konnte. Die neue Regierung muss dann “Oppositionsforderungen in staatliche Maßnahmen umwandeln“ und eine tiefere und breitere Hegemonie aufbauen, “indem die Ideen der mobilisierten Gesellschaft mit materiellen Ressourcen kombiniert werden, die durch oder über den Staat zur Verfügung gestellt werden.“ Der Wendepunkt (“Bifurkationspunkt“) kommt laut Garcia Linera durch eine “Reihe von Konfrontationen“ zwischen den Blöcken, die auf unerwartete Weise gelöst werden, entweder mit der Konsolidierung der neuen Situation oder der Wiederherstellung der alten. Wir sind am Bifurkationspunkt oder ihm sehr nahe. Was als nächstes kommen wird, kann nicht vorhergesagt werden.
Was den besten Köpfen in Asien, Afrika und Lateinamerika auf jeden Fall inzwischen bekannt ist, ist, dass es nie ein Ende der Geschichte gibt, wie von den erbärmlichen Waisen Hegels nachgeplappert wird, und dass es nie ein Ende der Geographie gibt, wie von den „die Welt ist flach“-Globalisierungs-Tanznarren nachgeplappert wird. Die geistige Befreiung des globalen Südens vom Norden ist endlich unterwegs. Und sie ist unumkehrbar. Es gibt keinen Weg zurück zur alten Ordnung. Wenn dies ein Film wäre, würde 1968 noch einmal wiederholt werden – die volle Zeit, die ganze Zeit: lasst uns Realisten sein und das Unmögliche fordern und umsetzen.
“The Poorer Nations: A Possible History of the Global South” von Vijay Prashad. Erschienen bei Verso, März 2013. ISBN-10: 1844679527. Preis US $ 26. 300 Seiten.
Anmerkungen des Übersetzers:
(1) In der englischen Überschrift, The South also rises, verwendet Escobar anscheinend ein kleines Wortspiel, indem er einen Rückgriff auf Fiesta: The Sun Also Rises von Ernest Hemingway tätigt, wobei dieser Titel wiederum auf Salomo 1,5 (Ecclesiastes) zurückgeht – “One generation passeth away, and another generation cometh; but the earth abideth forever … The sun also ariseth, and the sun goeth down, and hasteth to the place where he arose.”
(2) Das Zitat von Frantz Fanon aus dem Jahr 1961 lautet: “The Third World today faces Europe like a colossal mass whose project should be to try to resolve the problem to which Europe has not been able to find the answers.” Siehe hier.