FROM A LESSON I LEARNED IN KNOXVILLE, TENNESSEE

Mir scheint’s beinah unendlich lange her zu sein, fast so, als wäre es nie gewesen – doch once upon a time geschah es in Knoxville, Tennessee, dort im Lande, wo einst die Cherokee-Indianer lebten, eh man sie auf den Trail of Tears, den Zug der Tränen schickte, dort nun in Knoxville, Tennessee geschah es once upon a time, dass ich einmal pro Woche an der University of Tennessee an einem Kurs teilnahm, in dem es um eine andere Endangered Species, eine andere vom Aussterben bedrohte Art der Northamerican Wilderness ging: „Der schwarze Mann in der amerikanischen Gesellschaft.“

Von Lars Schall

FROM A LESSON I LEARNED IN KNOXVILLE, TENNESSEE

“Black is back, all in, we’re gonna win,

Check it out, yeah y’all, c’mon, here we go again.”

– Public Enemy –

*** 

        Mir scheint’s beinah unendlich lange her zu sein, fast so, als wäre es nie gewesen – doch once upon a time geschah es in Knoxville, Tennessee, dort im Lande, wo einst die Cherokee-Indianer lebten, eh man sie auf den Trail of Tears, den Zug der Tränen schickte, dort nun in Knoxville, Tennessee geschah es once upon a time, dass ich einmal pro Woche an der University of Tennessee an einem Kurs teilnahm, in dem es um eine andere Endangered Species, eine andere vom Aussterben bedrohte Art der Northamerican Wilderness ging: „Der schwarze Mann in der amerikanischen Gesellschaft.“

        Von Woche zu Woche sprachen wir über beinah jeden erdenklichen Aspekt, der dazu in Betracht kam: Der schwarze Mann als Mann, Vater und Sohn, als Freund, Liebhaber und Ehepartner, als Arbeiter, Student oder Wissenschaftler, als Politiker, Prediger, Erfinder, Künstler, Schauspieler, Musiker, Schriftsteller, Sportler, sowie als Opfer und Täter von Kriminalität und Gewalt, oder vielleicht als Angehöriger einer Minderheit in einer weißen Mehrheitsgesellschaft am Ende auch einfach nur – und immer wieder: Als einen Gefangenen seiner schieren, nackten Haut.

        Die Zusammensetzung der Klasse war wie folgt: Da gab’s Czu Lung, einen Taiwan-Chinesen, Saimah, Reem und Sanjana, drei kopftuchtragende Muslima mit Wurzeln im Morgenland, Marie und François, zwei Abgesandte der Grande Nation, circa fünfzehn junge Amerikaner (Zweidrittel: Feminin, Eindrittel: Maskulin) mit schwarzer Hautfarbe, einen jungen Amerikaner mit weißer Hautfarbe, und natürlich gab’s auch noch mich: das Kid from Germany.

        Man schrieb das Frühjahr, da kann’s in Tennessee kalt werden. Die Heizung des Seminarraums, in dem wir uns allwöchentlich zur Unterrichtsstunde einfanden, funktionierte eher selten, und so froren wir recht häufig zusammen. Außerdem klemmte die Tür von außen: Wenn man rein wollte, brauchte man entweder, wie der Seminarleiter, einen Schlüssel, oder jemand musste von innen zur Tür kommen, um sie dem Außenstehenden zu öffnen.

        Der Mann mit dem Schlüssel, d. h.: der Seminarleiter, war Doctor White. Doctor George White Junior. Doctor White hatte an der Harvard University Jurisprudenz studiert, hatte eine Weile in Los Angeles als Rechtsanwalt gearbeitet, und war nach Templeton gegangen, um dort noch ein Geschichtsstudium nachzuschieben. Er war Vater dreier Kinder und Ehemann einer sehr netten Frau, und ja: Doctor George White Junior war schwarz.

         Jeden Morgen, wenn wir uns trafen: die weiße Minderheit, die schwarze Mehrheit und die, die irgendwo dazwischen waren, um über den schwarzen Mann in der amerikanischen Gesellschaft zu sprechen, gab es ein Ritual, das ich zunächst als sehr gewöhnungsbedürftig, oder doch zumindest als sehr ungewöhnlich empfand. Jeden Morgen ging Doctor White an die Schiefertafel, um einen bestimmten Satz in Druckbuchstaben aufzuschreiben. Danach legte er die Kreide beiseite und wandte sich an die Klasse. Wir, seine Schüler, standen auf, und dann sagte er zu uns: „Wiederholt es nach mir.“

        Woraufhin er den Satz, der vor uns in Druckbuchstaben an der Tafel stand, aufsagte, bevor wir, seine Schüler, es ihm gleichtaten.

        Daraufhin wiederholte er den Satz noch einmal, und wir, seine Schüler, wiederholten ihn ebenso noch einmal.

        Anschließend setzten wir uns und Doctor White begann mit dem eigentlichen Unterricht. Die Stunde endete, wir verstreuten uns in die Winde, kamen eine Woche später wieder zusammen, standen vor Doctor White, hörten ihn sagen: „Wiederholt es nach mir“, wiederholten es, einmal, zweimal, setzten uns, und der eigentliche Unterricht begann.

        Das Semester ging zuende, so auch das Seminar über den schwarzen Mann in der amerikanischen Gesellschaft, wir verstreuten uns in die Winde und kamen niemals mehr zusammen.

        Und doch, heute, wo mir das beinah unendlich lange her zu sein scheint, fast so, als wäre es nie gewesen, kehre ich in Gedanken gerne wieder zurück in den Seminarraum mit der selten funktionierenden Heizung und der klemmenden Tür. Doctor White hat mir und den anderen einen Schlüssel gemacht; mit dem kommt man in Gedanken von außen hinein. Und dann stehe ich, das Kid from Germany, wieder mit den anderen Gefangenen ihrer jeweiligen Hautfarbe da, wir sehen den Satz in Druckbuchstaben an der Tafel stehen, Doctor George White Junior tritt vor uns, sagt: „Wiederholt es nach mir“, und nachdem er es gesagt hat, wiederholen wir es, einmal, zweimal:

 

’’MY LIFE IS WORTH SAVING!“,

 

        und der Unterricht kann wieder von neuem beginnen.

PUBLIC ENEMY: Bring the Noise

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