Viele sogenannte Finanz-“Experten“ wurden vom Ausbruch der Finanzkrise auf dem völlig falschen Fuß erwischt. Ein Gelehrter, der gewiss nicht überrascht gewesen wäre, so er sie noch hätte erleben dürfen, würde Hyman Minsky sein, sagte er doch derlei Ereignisse als eine regelmäßige Eigenschaft des Finanzsystems voraus: “Finanzielle Instabilität und Finanzkrisen sind Gegebenheiten des Wirtschaftslebens“, lautete eine seiner Überzeugungen. Grund genug, sich ein wenig mit dem auseinanderzusetzen, was Minsky die “Hypothese der finanziellen Instabilität“ nannte.
Von Lars Schall
Zu jenen Zeitgenossen, die vom Ausbruch der Finanzkrise keineswegs auf dem falschen Fuße erwischt wurden, sondern ganz im Gegenteil: die sie prognostiziert hatten, ehe sie eintraf, gehören nicht zuletzt Ökonomen und Finanzanalysten, die ihr Augenmerk dem Werk von Hyman Minsky (1919-1996) widmen, insbesondere seiner Krisentheorie, die er während der 1960er und 1970er Jahre entwickelt hatte. Hierbei steht das Verhältnis zwischen dem Produktions- und dem Finanzbereich sowie deren Einflüsse auf die wirtschaftliche Gesamtentwicklung im Zentrum. Minsky schuf eine Theorie der zyklischen Wirtschaftsentwicklung, bei der Spekulationsgeschäfte, Investitionen, Banken, Cash Flows und finanzielle Wechselbeziehungen systematisch miteinbezogen werden. Geld ist für Minsky – im Gegensatz zu einer Vielzahl seiner Fachkollegen – nichts Neutrales, Kunjunkturzyklen ergeben sich hauptsächlich durch ein Auf und Ab privater Investionsaufkommen, und hierarchisch steht der Finanzsektor an primärer Stelle im kapitalistischen Wirtschaftssystem, das laut Minsky, einem Studenten von Joseph Schumpeter, wiederum inhärent instabil ist.
Zu der besagten Kategorie der Ökonomen, deren Arbeiten explizit auf dem Werk von Hyman Minky aufbauen, zählt der australische Wirtschafts- und Finanzgelehrte Steve Keen. Von 2006 an sagte Keen von Minskys Krisenthese ausgehend eine Wirtschaftskrise voraus, die durch einen zu hohen Schuldenanteil am Bruttonationaleinkommen verursacht werden würde, wonach eine Deflation bzw. genauer: eine Schuldendeflation folgen sollte. So ist es denn auch gekommen. Über die nachfolgende Übersetzung hinaus möchte ich daher zur weiteren Vertiefung eine wissenschaftliche Arbeit von Steve Keen empfehlen, “Instability in Financial Markets: Sources and Remedies”, die auf der Website des Institute for New Economic Thinking (INET) hier als PDF abgerufen werden kann. Auch möchte ich einen Artikel von mir zur Lektüre empfehlen, der Steve Keen für Asia Times Online in den Mittelpunkt rückte, “Who saw the economic crisis coming and why?“ Zuletzt möchte ich zum einen noch auf das Minsky Archive auf der Website des Bard College sowie zum anderen auf eine Erscheinung im Diaphanes Verlag hinweisen, Hyman P. Minsky: “Instabilität und Kapitalismus“, Zürich 2011.
Die nachfolgende Übersetzung ist ein Ausschnitt aus einem Artikel, den Hyman Minsky 1977 für “Challenge” geschrieben hatte (siehe “The Financial Instability Hypothesis: An Interpretation of Keynes and an Alternative to ‚Standard‘ Theory, Challenge, March-April 1977, pp. 20-27). Dem Aufsatz können wir die Grundidee der “finanziellen Instabilität“ entnehmen.
Zur Hypothese der finanziellen Instabilität
von Hyman P. Minsky
Der natürliche Ausgangspunkt für die Analyse der Beziehung zwischen Schulden und Einkommen ist, eine Wirtschaft mit einer zyklischen Vergangenheit heranzuziehen, der es nunmehr gut ergeht. Die geerbten Schulden spiegeln die Geschichte der Wirtschaft wider, die einen Zeitraum in der nicht allzu fernen Vergangenheit umfasst, in der es der Wirtschaft nicht so gut erging. Akzeptable Verbindlichkeitsstrukturen basieren auf einer gewissen Sicherheitsmarge, so dass die erwarteten Cashflows selbst in Zeiten, in denen es der Wirtschaft nicht gut geht, einen vertraglichen Schuldendienst abdecken können.
Da sich der Zeitraum, in dem es der Wirtschaft gut ergeht, verlängert, werden zwei Dinge in den Chefetagen evident. Bestehende Schulden sind leicht validiert und Einheiten, die stark verschuldet waren, florierten; es machte sich bezahlt, gehebelt zu haben. Nach dem Ereignis wird ersichtlich, dass die Sicherheitsmargen, die in die Schuldenstrukturen eingebaut wurden, zu groß waren. Als ein Ergebnis dessen werden sich über einem Zeitraum hinweg, in dem es der Wirtschaft gut geht, die Ansichten über akzeptable Schuldenstrukturen ändern.
In dem Deal-Aushandeln, das zwischen Banken, Investmentbankern und Geschäftsleuten vor sich geht, nimmt die zulässige Höhe der Schulden, die für die Finanzierung verschiedener Arten von Tätigkeiten und Positionen verwenden werden, zu. Diese Erhöhung des Gewichts der Fremdfinanzierung erhöht den Marktpreis von Kapitalvermögen und erhöht die Investitionen. Indem dies weitergeht, wird die Wirtschaft in eine Boom-Wirtschaft verwandelt.
Stabiles Wachstum ist mit der Art und Weise unvereinbar, in der die Investitionen in einer Wirtschaft bestimmt werden, in der kreditfinanziertes Eigentum an Kapitalvermögen vorhanden ist und in der der Umfang, zu dem eine solche Schuldenfinanzierung durchgeführt werden kann, vom Markt bestimmt wird. Daraus folgt, dass die fundamentale Instabilität der kapitalistischen Wirtschaft nach oben hin verläuft. Die Tendenz, eine gute Phase in einen spekulativen Investitionsboom zu transformieren, stellt die grundlegende Instabilität in einer kapitalistischen Wirtschaft dar.
Innovationen der Finanzpraktiken sind ein Merkmal unserer Wirtschaft, vor allem, wenn die Dinge gut laufen. Neue Institutionen, wie die Real Estate Investment Trusts (REITs), und neue Instrumente, wie verhandelbare Einlagenzertifikate, werden entwickelt; alte Instrumente, wie kurzfristige Anleihen, nehmen im Volumen zu und finden neue Bestimmungen. Aber jedes neue Instrument und der erweiterte Einsatz von alten Instrumenten steigert die Höhe der Finanzierungsmittel, die verfügbar sind und zur Finanzierung von Aktivitäten und das Eingehen von Positionen in übernommenen Vermögenswerten verwendet werden können.
Die erhöhte Verfügbarkeit von Finanzmitteln erhöht die Preise von Vermögenswerten im Vergleich zu den Preisen der aktuellen Produktionsleistung und dies führt zu einer Erhöhung der Investitionen. Die Menge des relevanten Gelds wird in einer Wirtschaft, in der Geld mit der Definition von Keynes konform geht, endogen bestimmt. Das Geld der Standard-Theorie – seien es die Mindestreservebasis, Sichteinlagen und die Währung oder ein Konzept, das Festgelder und Spareinlagen umfasst – vermag die monetären Phänomene, die für das Verhalten unserer Wirtschaft relevant sind, nicht einzufangen.
In unserer Wirtschaft ist es sinnvoll, zwischen Hedge-Finanzgeschäften und Finanzspekulationen zu unterscheiden. Hedge-Finanzgeschäfte erfolgen, wenn von den Cashflows aus dem operativen Geschäft erwartet wird, dass sie groß genug sein werden, um die Zahlungsverpflichtungen auf Schulden erfüllen zu können. Spekulative Finanzgeschäfte erfolgen, wenn von den Cashflows aus der laufenden Geschäftstätigkeit nicht erwartet wird, dass sie groß genug sein werden, um Zahlungsverpflichtungen zu erfüllen, auch wenn der Barwert der erwarteten Zahlungseingänge größer ist als der Barwert der Zahlungsverpflichtungen. Spekulierende Einheiten erwarten, die Verpflichtungen durch das Beschaffen von Finanzmitteln via neuer Schulden erfüllen zu können.
Nach dieser Definition ist eine „Bank“ mit Sichteinlagen und kurzfristigen Einlagen in der Regel in spekulative Finanzgeschäfte engagiert. Die REITs, Fluggesellschaften und die Stadt New York waren 1970-73 an Finanzspekulationen beteiligt. Ihre Schwierigkeiten 1974-75 kamen ob einer Umkehr in den Barwerten zustande (der Barwert der Schuldenverpflichtungen übersteigt den Barwert der erwarteten Einnahmen), und zwar aufgrund der Erhöhungen der Zinssätze und einer Unterdeckung der realisierten Cashflows gegenüber den zuvor erwarteten.
Während eines Zeitraums des erfolgreichen Funktionierens der Wirtschaft sind private Schulden und spekulative Finanzpraktiken validiert. Während jedoch Einheiten, die sich in Hedge-Finanzgeschäften engagieren, nur vom normalen Funktionieren von Faktor- und Gütermärkten abhängen, hängen Einheiten, die sich in spekulativen Finanzgeschäften engagieren, auch vom normalen Funktionieren der Finanzmärkte ab. Insbesondere müssen spekulative Einheiten kontinuierlich ihre Positionen refinanzieren. Höhere Zinsen werden ihre Geldkosten selbst dann erhöhen, wenn sich die Renditen auf die Vermögenswerte nicht erhöhen sollten.
Während eine Geldmengenregel ein valider Leitfaden für die Politik innerhalb eines Regimes sein kann, das von Hedge-Finanzgeschäften dominiert wird, verliert eine solche Regel ihre Gültigkeit, wenn der Anteil der spekulativen Finanzen zunimmt. Die Federal Reserve muss den Kreditmarktbedingungen immer dann mehr Aufmerksamkeit schenken, wenn die Bedeutung der spekulativen Finanzierungen zunimmt, da die weitere Arbeitsfähigkeit von Einheiten, die sich in spekulativen Finanzen engagieren, von Zinsraten abhängt, die innerhalb ziemlich enger Grenzen verharren.
Einheiten, die sich in spekulativen Finanzen engagieren, sind an „drei Fronten“ anfällig. Erstens müssen sie die Marktanforderungen erfüllen, indem sie Schulden refinanzieren. Ein Anstieg der Zinssätze kann ihre Barzahlungsverpflichtungen im Vergleich zu den Bareinzahlungen steigen lassen. Zweitens, da ihre Vermögenswerte langfristiger als ihre Verbindlichkeiten sind, wird ein Anstieg der lang- und kurzfristigen Zinsen zu einem größeren Rückgang des Marktwerts ihrer Vermögenswerte als dem ihrer Verbindlichkeiten führen. Der Marktwert der Vermögenswerte kann kleiner als der Wert ihrer Schulden werden. Die dritte Schwachstelle ist, dass die Ansichten über akzeptable Verbindlichkeitsstrukturen subjektiv sind, und ein Defizit von Bareinzahlungen gegenüber Barzahlungsverpflichtungen vermag zu schnellen und breiten Neubewertungen von gewünschten und akzeptablen Finanzierungsstrukturen führen.
Während das Experimentieren mit Schuldenstrukturen über Jahre hinweg fortdauern kann und dies ein Prozess der schrittweisen Prüfung der Grenzen des Marktes ist, kann die Neubewertung von akzeptablen Schuldenstrukturen, wenn etwas schief geht, sehr plötzlich und schnell vonstatten gehen.
Zusätzlich zu den den Hedge- und Spekulationsfinanzgeschäften können wir auch die Ponzi-Finanzierung (Schneeballsystemfinanzierung) unterscheiden – eine Situation, bei der Barzahlungsverpflichtungen auf Schulden durch die Erhöhung der Menge an ausstehenden Verbindlichkeiten erfüllt werden. Hohe und steigende Zinsen können Hedge-Finanz-Einheiten dazu zwingen, spekulative Finanzgeschäfte zu tätigen, und spekulative Finanz-Einheiten dazu, sich in Ponzi-Finanzgeschäften zu engagieren.
Ponzi-Finanzierungseinheiten vermögen nicht allzu lange durchzuhalten. Die Bewertungen von offenbarten finanziellen Schwächen einiger Einheiten wirken sich auf die Bereitschaft der Banker und Geschäftsleute aus, die Schulden einer Vielzahl von Organisationen zu finanzieren. Sofern er nicht durch Staatsausgaben ausgeglichen wird, führt der Rückgang der Investitionen, der von einer Finanzierungszurückhaltung herrührt, zu einem Rückgang der Gewinne und der Fähigkeit, Schulden auszuhalten. Ganz plötzlich kann sich eine Panik entwickeln, da der Druck nach einer niedrigeren Schuldenquote steigt.
Was wir mit der Hypothese der finanziellen Instabilität haben, ist eine Theorie, wie eine kapitalistische Wirtschaft endogen eine finanzielle Struktur erzeugt, die anfällig für Finanzkrisen ist, und wie das normale Funktionieren der Finanzmärkte in der resultierenden Boom-Wirtschaft eine Finanzkrise auslösen wird.