Die Kredit-Blase, die Erdogans beginnende islamistische Diktatur begünstigte, platzt nunmehr. Ein wachsender Teil der türkischen Wähler, der seiner Agenda misstraute, jedoch seine Wirtschaftspolitik mochte, muss erkennen, dass der Teufel, den man zu kennen meinte, seinen Teil der Abmachung nicht eingehalten hat. Der vermeintliche Wiedergänger des Heiligen Nikolaus sollte zudem berücksichtigen, dass die Geduld der türkischen Geldgeber im Persischen Golf zwar lang ist, aber mitnichten unerschöpflich.
Von Spengler / David P. Goldman, Übersetzung Lars Schall
Die exklusive Übersetzung des nachfolgenden Essays ins Deutsche für LarsSchall.com erfolgt mit ausdrücklicher und persönlicher Genehmigung von David P. Goldman.
David P. Goldman, unserer Ansicht nach weltweit einer der überragenden Essayisten unserer Zeit, war in der Vergangenheit der globale Leiter für die Research-Abteilung festverzinslicher Wertpapiere bei der Bank of America (2002-2005) und der globale Leiter für Kredit-Strategie bei Credit Suisse (1998-2002). Des Weiteren arbeitete er in leitender Funktion bei Bear Stearns, Cantor Fitzgerald und Asteri Capital. Heute leitet er den Beratungsservice Macrostrategy.
Von 1994 bis 2001 war Goldman ferner Kolumnist des Forbes-Magazins. Darüber hinaus diente er während der 1980er Jahre Norman A. Bailey, dem damaligen Director of Plans des National Security Council der USA.
Auf Asia Times Online veröffentlicht er seit 2000 regelmäßig seine “Spengler“-Essays (so benannt nach dem deutschen Historiker und Philosophen Oswald Spengler). Für eine Gesamt-Übersicht der exklusiv für LarsSchall.com übersetzten Artikel von Spengler / David P. Goldman siehe hier. Darüber hinaus steht hier ein Exklusiv-Interview mit David P. Goldman auf LarsSchall.com parat, “Gold gibt einem extrem wichtige Signale“.
“Ask anyone in the intelligence business to name the world’s most brilliant intelligence service, and we’ll all give the same answer: Spengler. David P. Goldman’s ‘Spengler’ columns provide more insight than the CIA, MI6, and the Mossad combined.” — Herbert E. Meyer, Special Assistant to the CIA Director and as Vice Chairman of the CIA’s National Intelligence Council, Reagan Administration.
Zusätzlich schreibt Goldman für das Monatsmagazin First Things Essays, die ebenfalls einen weitgefassten Bogen spannen – von jüdischer Theologie über Ökonomie und Literatur bis hin zu Mathematik und Außenpolitik. Des Weiteren gehört er zum Kolumnisten-Stab von PJ Media, während er bei Tablet Musik-Kritiken beisteuert. Goldman ist der Autor des Buches “How Civilizations Die (and why Islam is Dying, Too)”, veröffentlicht bei Regnery Press. Eine Sammlung seiner Essays, “It’s Not the End of the World – It’s Just the End of You”, erschien bei Van Praag Press.
Er hat oft vor vielen bedeutenden Wirtschaftskonferenzen gesprochen, so zum Beispiel den Jahrestreffen der Weltbank. Sein Kapitel über Markt-Versagen im “Bloomberg Book of Master Market Economists“ (2006) gehört zu den Prüfungstexten für das Examen zertifizierter Finanzanalysten. Er hat Ökonomie an der Columbia University und an der London School of Economics sowie Musik-Theorie an der City University of New York studiert. Am Mannes College of Music lehrte er Musik-Theorie. Derzeit dient er daselbst dem Board of Governors. Ferner sitzt er im Board of Directors of the America-Israel Cultural Foundation und ist ein Fellow des Jewish Institute for National Security Affairs. David P. Goldman lebt in New York City, U.S.A.
Die Ökonomie des “Türkischen Frühlings“
von Spengler / David P. Goldman
Die über mehrere Tage gehenden offenen Schlachten zwischen Anti-Regierungs-Demonstranten und der türkischen Polizei auf dem Istanbuler Taksim-Platz bilden einen nationalen Aufstand gegen die beginnende islamistische Diktatur von Recep Tayyip Erdogan. Zum Zeitpunkt des Schreibens dieses Artikels am 2. Juni kontrollieren Zehntausende von Regimegegner das Herz Istanbuls, während sich die Polizei zurückgezogen hat. Die wirtschaftliche Not der türkischen Haushalte ist ein wichtiger Faktor bei den politischen Umwälzungen des Landes.
Nachrichten-Medien haben die Demonstrationen bereits einen „Türkischen Frühling“ genannt. Das ist eine Wende der Ereignisse, denn das „türkische Modell“ wurde vor zwei Jahren als die Lösung für die wirtschaftlichen und sozialen Probleme der scheiternden Polizei-Staaten des arabischen Nationalismus propagiert. Erdogans angeblich moderater Islamismus und dynamische wirtschaftliche Verwaltung bot angeblich einen Ausweg für Ägypten und andere gescheiterte Volkswirtschaften des Nahen Ostens.
Erdogan hatte sich während seiner Kampagne zu den Bürgermeisterschaftswahlen in Istanbul 1994 selbst zu einem „Diener der Scharia“ erklärt, aber die meisten westlichen Beobachter entschieden sich, den Möchtegern-Diktator der Türkei bei seinem nachfolgenden Wort zu nehmen, dass er den säkularen Charakter des türkischen Staates respektiere.
Es sollte niemals sein. Erdogan waltete nicht über einem Wirtschaftswunder – im Gegensatz zu den leichtgläubigen Auffassungen vieler westlicher Beobachter -, sondern arrangierte eher die übliche Art von Dritte-Welt-Kredit-Blase, die die türkischen Verbraucher ob der verheerenden Schuldenlast mit einem Engerschnallen des Gürtels zurückließ. „Wirtschaftliche Schwierigkeiten werden die politische Agenda bestimmen, und Erdogans Führungsanspruch gegenüber der islamischen Welt – geschweige denn gegenüber seinem eigenen Land – wird weit weniger glaubwürdig aussehen“, warnte ich an dieser Stelle am 23. April (siehe: Turkey’s ticking debt time-bomb, Asia Times Online), kurz bevor Moody’s der Türkei ein Investment-Grade-Rating zuwies; vielleicht das jämmerlichste Urteil der Rating-Agentur, seit sie „AAA“-Stempel auf Wertpapiere setzte, die mit zweitklassigen Hypotheken unterlegt waren.
Die Probleme der Türkei können nicht wirklich mit den Aufständen im muslimischen Nordafrika im Jahre 2011 verglichen werden: Die Wirtschaft des Landes wird funktionsfähig bleiben, gleichwohl weit unter den Erwartungen der gewöhnlichen Türken, und sein politisches System ist robust. Aber die Anti-Regierungs-Demonstrationen markieren einen Wendepunkt für die Geschicke des türkischen Islamismus.
Die Wut der Demonstranten konzentriert sich auf die schleichende Diktatur Erdogans: die schrittweise Einführung des islamischen Rechts in einem türkischen Staat, der auf säkularen Prinzipien gründet, die Inhaftierung von Hunderten von Regime-Gegnern, und die Assimilation enormer wirtschaftlicher Macht in korrupten Monopolen, die von Erdogans Partei beherrscht werden. Durchgesickerte diplomatische Depeschen der USA behaupteten im Jahre 2010, dass Erdogan ein riesiges persönliches Vermögen durch Bestechungen während seiner Amtszeit und Provisionen aus dem Verkauf türkischer Vermögenswerte an ausländische Investoren angehäuft habe. [1] Kemal Kilicdaroglu, der Chef der säkularen Oppositionspartei CHP, verglich Erdogan mit Hitler.
Syriens Bürgerkrieg verschärft überdies die sektiererischen und ethnischen Spaltungen der Türkei. Ein Fünftel der Türken zählt eventuell zur Alewiten-Sekte, einem Zweig des Islam, der als moderat bezeichnet werden könnte und vor allem für die säkularen Parteien votiert. Erdogans Auftreten als Anführer des militanten Sunnismus sowohl in Syrien wie auch in Gaza, wo er die Hamas bevormundet, besorgt die Alewiten, die ein langes Gedächtnis für die sunnitischen Verfolgungen besitzen. Die Alewiten haben wenig mit den syrischen Alawiten gemein, der Minderheiten-Sekte der Assad-Familie, aber die Alewiten hegen eine gewisse Sympathie für die Assad-Regierung, weil die türkischen Sunniten so entschlossen sind, sie zu zerstören.
Die kurdische Minderheit umfasst mehr als ein Fünftel der Türkei, und ihre Sterblichkeitsrate ist doppelt oder dreifach so hoch wie die der Türkisch-Sprechenden. Ethnische türkische Sunniten – die Bevölkerungsgruppe, an die die regierende Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) appelliert – machen kaum einen Großteil der türkischen Bevölkerung aus und die demografische Entwicklung wird sie in 20 Jahren oder weniger zu einer Minderheit machen. Syriens zwei Millionen Kurden sind mit ihren eigenen kommunalen Verwaltungen und Milizen zu einem unabhängigen Faktor als Folge des Bürgerkriegs geworden. Sie betrachten die arabischen Dschihadisten, die die Rebellen dominieren, gerechtfertigter Weise mit Angst und Misstrauen. Auch sie stört Erdogans Rückendeckung der sunnitischen Rebellen.
Nur eine kleine Minderheit der AKP-Basis befürwortet darüber hinaus die islamistische Agenda. Nach einer im April 2013 vom Pew Institute durchgeführten Umfrage wollen nur 12% der Türken die Scharia als das Gesetz des Landes haben, im Gegensatz zu 84% der Muslime in Südasien, 77% in Südostasien und 74% im Nahen Osten und in Nordafrika.
Quelle: Pew Institute, April 2013.
Deshalb beruhte Erdogans Mandat auf wirtschaftlicher Leistung. Seine fundamentalistische sunnitische Agenda sprach die türkische Mehrheit nicht an. Aber er bezog Stimmen von säkularen Türken aufgrund der vermeintlichen Stärke seiner Wirtschaftsführung. Die Analogie zu Hitler ist in mancherlei Hinsicht widerlich, aber sie hält bei der Charakterisierung von Erdogans verdeckter Agenda zum Aufzwingen einer ideologischen Diktatur stand. Die türkische Öffentlichkeit betrachtet korrekter Weise die neuen Gesetze der Regierung, die den Verkauf von Alkohol nach 22.00 Uhr untersagen und jede Darstellung von Alkoholkonsum in öffentlichen Medien verbieten, als eine schleichende Scharia.
In seinem Präsidentschaftswahlkampf 2011 eiferte Erdogan einem früheren Kleinasiaten nach, namentlich dem Heiligen Nikolaus. Wie ich in einer Studie für Middle East Quarterly 2012 schrieb:
Erdogans Blase erinnert an die Erfahrungen in Argentinien im Jahre 2000 und Mexiko 1994, wo steigende Auslandsverschuldungen kurzlebige Blasen des Wohlstands produzierten, denen Währungsabwertungen und tiefe Einbrüche folgten. Ebenso wie Erdogan in den Monaten vor den nationalen Wahlen im Juni 2011, erkauften sich die beide Regierungen Lateinamerikas Popularität durch günstige Konsumentenkredite. [3]
Erdogans politisch ausgerichtete Großzügigkeit kommt die türkischen Verbraucher teuer zu stehen. Der private Konsum wird in realen Verhältnissen fallen. Das BIP-Wachstum ist nahe Null und wird durch eine 20%-ige Wachstumsrate in staatlichen Konsumausgaben abgestützt. Mit Staatsausgaben, die die wirtschaftliche Tätigkeit dominieren, ist es nicht verwunderlich, dass die Inflationsrate der Türkei bei 7% liegt.
Abbildung 1: Das türkische BIP, die Konsumausgaben der privaten Haushalte und der staatliche Konsum (prozentuale Veränderung auf von-Jahr-zu-Jahr-Basis)
Quelle: Zentralbank der Türkei
Die gesamtwirtschaftlichen Daten verschleiern die wachsenden Nöte der türkischen Wirtschaft. Regierungsdaten unterscheiden abhängige Beschäftigungen im offiziellen Sektor von „unbezahlter Familienangehörigen-Beschäftigung“ und „Selbständigkeit“. Während des vergangenen Jahres ist die Beschäftigung im offiziellen Sektor um 5% geschrumpft, während die „unbezahlte Familienangehörigen-Beschäftigung“ um 5% gestiegen ist. Das bedeutet einfach, dass die Produktions- und Dienstleistungs-Mitarbeiter mit echten Arbeitsplätzen entlassen wurden und mit dem Bus zurück zu den sich hart abmühenden Landwirtschaftsbetrieben in Zentralanatolien zurückgefahren sind oder in die kleinen Familienbetriebe aufgesogen wurden. Dies ist versteckte Arbeitslosigkeit. Eine 5%-ige Schrumpfung der Arbeitskräfte in der offiziellen Wirtschaft ist ein verheerendes Ergebnis.
Abbildung 2: Formale Beschäftigung, „mithelfende / unbezahlte Familienangehörige“ und „Selbständigkeit“ (Änderung im Vergleich zum vorherigen Jahr)
Quelle: Zentralbank der Türkei
Die Wirtschaft der Türkei, die seltsamer Weise als das nächste China angepriesen wurde, setzt auf niedrige und mittlere Technik-Exporte nach Europa, in die arabische Welt und in die ehemalige Sowjetunion. Sie wuchs als billige Arbeitskräfte-Vertriebsstelle für europäische und einige asiatische Hersteller und sank darnieder, als die europäische Wirtschaftskrise, die russische wirtschaftliche Stagnation und die Unordnung unter den muslimischen Handelspartnern ihre Märkte schrumpfen ließen. Sie hat eine niedrigere Rate von Sekundarschul-Abschlüssen als Mexiko und eine enorme informelle Wirtschaft. Ein paar türkische Universitäten lehren zu weltweiten Standards, aber die Türkei hat nichts im Vergleich zu den Talent-Schmieden von China, Taiwan oder Korea zu bieten.
Abbildung 3: Ausstehende türkische Verbraucherkredite
Quelle: Zentralbank der Türkei
Um die Konsum-Blase zu erhalten, unterhielt die Türkei ein Leistungsbilanzdefizit, das im Jahre 2012 10% erreichte und überwiegend mit kurzfristigen Schulden finanziert wurde, die Anhaltspunkten nach in hohem Maße von den sunnitischen Golfstaaten bereitgestellt wurden, die die Türkei als ein Bollwerk gegen den Iran ansehen.
Abbildung 4: Kurzfristige Auslandsverschuldung der Türkei
Quelle: Zentralbank der Türkei.
Die kurzfristige Auslandsverschuldung der Türkei wächst immer noch um 30% jährlich im Vergleich zum Vorjahr (und um 70% auf einer jährlichen Rate gesehen in den ersten drei Monaten des Jahres 2013). Der wirtschaftliche Abschwung sollte die Auslandskredite der Türkei reduziert haben, hat sie aber stattdessen beschleunigt. Die Geduld der türkischen Geldgeber im Persischen Golf ist lang, aber nicht unerschöpflich.
Die ausstehenden Konsumenten-Schulden sind fast um das 10-fache seit 2006 gestiegen und um 40% im vergangenen Jahr hochgesprungen. Wie ich in meinem Essay vom 23. April erwähnte, ist es schwer, eine 40%-ige jährliche Steigerung der Verschuldung der Verbraucher mit einem 5%-igen jährlichen Anstieg der nominalen Konsumausgaben zu versöhnen (die Inflation bewegt sich bei 7%, also sind die realen Ausgaben um 2% zurückgegangen). Die Daten implizieren, dass die türkischen Verbraucher sich enorme Mengen leihen, um die Zinsen, die sie auf ihre bestehenden Schulden zahlen müssen, zu refinanzieren.
Erdogans Kaufrausch des Jahres 2011 hat die Türken mit einem horrenden Kater zurückgelassen. Banken können ihre Konsumentenkredit-Bilanz nicht unendlich um 40% pro Jahr aufblähen, und wenn die Musik stoppt, müssen die türkischen Haushalte ihren Verbrauch drastisch reduzieren. Schulden-belastete Verbraucher wissen, dass dies eher früher als später geschehen muss, und diese Ahnung hilft wahrscheinlich, die nationale Stimmung anzusäuern.
„Die längerfristigen Risiken für die Türkei sind noch gewaltiger“, schrieb ich in dem zitierten Essay für Middle East Quarterly. „Ein Entwicklungsland kann eine Fertilitätsrate, die zu einer raschen Zunahme der älteren Angehörigen führt, nicht aufrechterhalten, und doch ist die Geburtenrate der Türken, für die Türkisch die erste Sprache ist, in den letzten fünfzehn Jahren in einem stetigen Rückgang begriffen, indem sie auf das 1,5-fache im Vergleich zu Europa fiel – während seine Bevölkerung fast so schnell wie Iran altert, was dem System der sozialen Sicherheit des Landes ein Defizit von knapp 5 Prozent des BIP beschert. ‘Wenn wir den vorhandenen [Geburten-] Trend fortsetzen, wird das Jahr 2038 eine Katastrophe für uns markieren‘, warnte Erdogan in einer Rede im Mai 2010.“ Innerhalb einer Generation wird die Hälfte der türkischen Männer im wehrfähigen Alter aus Kurdisch sprechende Haushalten kommen, so sich der gegenwärtige Trend fortentwickelt.
Im Nachhinein könnten Analysten der türkischen Politik schließen, dass Erdogans Islamismus keinen Neuanfang für die Türkei darstellte, sondern einen verspäteten Versuch, einen islamischen Kitt in die Risse zu geben, die die türkische Gesellschaft zu zerbrechen drohen. Er könnte darin bereits versagt haben. Ein wachsender Teil der türkischen Wähler hat festgestellt, dass er einen Handel mit dem Teufel abgeschlossen hat, und der Teufel hat seinen Teil der Abmachung nicht eingehalten.
Quellen:
1. US cables claim Turkish PM Erdogan has eight Swiss bank accounts, Hurriyet Daily News, November 29, 2010.
2. The World’s Muslims: Religion, Politics and Society, Pew Research Center on Religion and Public Life, April 30, 2013.
3. Ankara’s ‚Economic Miracle‘ Collapses, The Middle East Quarterly, Volume XIX, Number 1, Winter, 2012.