SPENGLER: Kierkegaard ist mehr erforderlich denn je

Der zweihundertste Jahrestag der Geburt des dänischen Philosophen Sören Kierkegaard im vergangenen Monat verging unbemerkt – in einem Zeitalter, da seine Lehre mehr denn je benötigt wird, so David P. Goldman. Er kehrt das Leidenschaftliche hervor, das Kierkegaards Philosophieren durchzieht – und erklärt, dass es im Spannungsfeld des Seins unsere Leidenschaft ist, die uns definiert – zum Besseren oder Schlechteren.

Von Spengler / David P. Goldman, Übersetzung Lars Schall

Die exklusive Übersetzung des nachfolgenden Essays ins Deutsche für LarsSchall.com erfolgt mit ausdrücklicher und persönlicher Genehmigung von David P. Goldman.

David P. Goldman, unserer Ansicht nach weltweit einer der überragenden Essayisten unserer Zeit, war in der Vergangenheit der globale Leiter für die Research-Abteilung festverzinslicher Wertpapiere bei der Bank of America (2002-2005) und der globale Leiter für Kredit-Strategie bei Credit Suisse (1998-2002). Des Weiteren arbeitete er in leitender Funktion bei Bear Stearns, Cantor Fitzgerald und Asteri Capital. Heute leitet er den Beratungsservice Macrostrategy.

Von 1994 bis 2001 war Goldman ferner Kolumnist des Forbes-Magazins. Darüber hinaus diente er während der 1980er Jahre Norman A. Bailey, dem damaligen Director of Plans des National Security Council der USA.

Auf Asia Times Online veröffentlicht er seit 2000 regelmäßig seine “Spengler“-Essays (so benannt nach dem deutschen Historiker und Philosophen Oswald Spengler). Für eine Gesamt-Übersicht der exklusiv für LarsSchall.com übersetzten Artikel von Spengler / David P. Goldman siehe hier. Darüber hinaus steht hier ein Exklusiv-Interview mit David P. Goldman auf LarsSchall.com parat, “Gold gibt einem extrem wichtige Signale“.

Ask anyone in the intelligence business to name the world’s most brilliant intelligence service, and we’ll all give the same answer: Spengler. David P. Goldman’s ‘Spengler’ columns provide more insight than the CIA, MI6, and the Mossad combined.” — Herbert E. Meyer, Special Assistant to the CIA Director and as Vice Chairman of the CIA’s National Intelligence Council, Reagan Administration.

Zusätzlich schreibt Goldman für das Monatsmagazin First Things Essays, die ebenfalls einen weitgefassten Bogen spannen – von jüdischer Theologie über Ökonomie und Literatur bis hin zu Mathematik und Außenpolitik. Des Weiteren gehört er zum Kolumnisten-Stab von PJ Media, während er bei Tablet Musik-Kritiken beisteuert. Goldman ist der Autor des Buches “How Civilizations Die (and why Islam is Dying, Too)”, veröffentlicht bei Regnery Press. Eine Sammlung seiner Essays, “It’s Not the End of the World – It’s Just the End of You”, erschien bei Van Praag Press.

Er hat oft vor vielen bedeutenden Wirtschaftskonferenzen gesprochen, so zum Beispiel den Jahrestreffen der Weltbank. Sein Kapitel über Markt-Versagen im “Bloomberg Book of Master Market Economists“ (2006) gehört zu den Prüfungstexten für das Examen zertifizierter Finanzanalysten. Er hat Ökonomie an der Columbia University und an der London School of Economics sowie Musik-Theorie an der City University of New York studiert. Am Mannes College of Music lehrte er Musik-Theorie. Derzeit dient er daselbst dem Board of Governors. Ferner sitzt er im Board of Directors of the America-Israel Cultural Foundation und ist ein Fellow des Jewish Institute for National Security Affairs. David P. Goldman lebt in New York City, U.S.A.

Kierkegaard ist mehr erforderlich denn je
von Spengler

Der zweihundertste Jahrestag der Geburt von Sören Kierkegaard verging am 5. Mai unbemerkt von der politischen Klasse, obwohl ein Dutzend wissenschaftliche Festivals ruhig sein Jubiläum ehrten. Das ist ein Markenzeichen unserer geistigen Armut. Der flüchtige Leser kennt den dänischen Philosophen als Mitternacht-Lektüre von angstbesetzten Studenten und als den Stoff existentieller Pop-Psychologie.

Das ist ein trauriges Ergebnis, da Kierkegaard einer der rigorosesten Philosophen ist, trotz seines anspornenden Stils. Er behauptete den Vorrang der Leidenschaft, nicht im vulgären Sinne aufgewallter Emotionen, sondern als primäre ontologische Substanz, aus der unsere Welt aufgebaut ist. In einer von Leidenschaft zerrissenen Welt sollten wir die Pop-Versionen ignorieren und ihn genauer lesen.

Wenn man mich fragte: „Wer ist Ihr politischer Lieblings-Philosoph?“, wie es die republikanischen Kandidaten in den 1980er US-Präsidentschaftsvorwahlen gefragt wurden, würde ich “Kierkegaard“ geantwortet haben. (Eigentlich ist es Franz Rosenzweig, aber niemand hat je von ihm vernommen).

Natürlich würde ich verloren haben. Leidenschaft ist passé. Kierkegaards Anschauung ist nahe dran an der der radikalen Protestanten, die die Amerikanische Revolution und den Bürgerkrieg ausgefochten haben, steht aber im Widerspruch zu den Hauptströmungen des modernen konservativen Denkens, das heißt, des klassischen politischen Rationalismus und der katholischen Naturrechttheorie. Kierkegaard hat noch eine Redoute im St. Olaf College in Minnesota, das Übersetzungen fördert und eine Bibliothek mit wissenschaftlichen Materialien unterhält, und ein paar andere protestantische Institutionen. Aber nie hört man seinen Namen in einem politischen Kontext.

Näher am konservativen Mainstream ist mein Freund Peter Berkowitz in seinem Buch von 2012: Constitutional Conservatism: Liberty, Self-Government, and Political Moderation (in etwa: Konstitutioneller Konservatismus: Freiheit, Selbstverwaltung und politische Moderation*). Wie Stanley Kurtz seine Ansicht im National Review zusammenfasste: „Mit Moderation meint Berkowitz ein bisschen etwas anderes als es im alltäglichen Gebrauch des Wortes bedeutet, ansonsten würden sich Buckley und Reagan nicht qualifizieren. Politische Moderation, sagt Berkowitz, ‘bedeutet nicht den Ausverkauf von Anliegen oder einen Grundsatz des Pragmatismus.‘ Ein wirkliches Verständnis der Moderation kann sogar starke Positionen und mutige Opposition gegen Volksbewegungen diktieren. Echte politische Moderation, erklärt Berkowitz, bedeutet den Ausgleich zwischen würdigen, aber miteinander konkurrierenden Prinzipien zu schaffen, und sie effektiv in die Praxis umzusetzen. In der Praxis ruft Berkowitz die Konservativen dazu auf, eine Art Frieden sowohl mit der sexuellen Revolution als auch den Grundlagen des New Deal-Wohlfahrtsstaat zu machen, ohne auf der anderen Seite weder ihre Grundprinzipien noch ihre Kernschlachten aufzugeben.“

Es steckt viel Weisheit in Berkowitz‘ Sicht. Dennoch widerspreche ich ihm aus zwei Gründen.

Erstens: Ob wir es als zweckmäßig oder nicht empfinden, es gibt letztlich keine Kompromisse mit der sogenannten sexuellen Revolution zu machen, weil sie uns schließlich töten wird: Wenn wir darin versagen, die sexuelle Leidenschaft dem Familienleben unterzuordnen, werden wir jene demografische Todesspirale teilen, die wahrscheinlich die Bevölkerung Europas um fast die Hälfte reduzieren wird, von den heutigen 767 Millionen Europäern auf knapp 395 Millionen am Ende dieses Jahrhunderts, wobei fast die Hälfte der Überlebenden im Alter von 60 Jahren sein werden. Es besteht kein Risiko darin, sich zur Wehr zu setzen. Ich arbeitete dieses Argument in meinem Buch von 2011, How Civilizations Die, und in Besprechungen der letzten Bücher der katholischen Schriftsteller Mary Eberstadt und Robert P. George aus.

Zweitens: Akte der Leidenschaft haben uns das Recht zum moderaten, gemäßigten Kompromiss-Schließen überhaupt erst gewonnen. Amerikas Gründer verpfändeten der revolutionären Sache ihr Leben, Vermögen und ihre heilige Ehre zu einem Zeitpunkt, als sie als Engländer mehr Freiheit als die Bürger in jedem anderen Land der Welt genossen, und als “taxation without representation“ (in etwa: Besteuerung ohne politische Vertretung) nicht verhinderte, dass sie in Frieden und relativem Wohlstand lebten. Nie zuvor oder je wieder haben in der modernen Geschichte Männer von Eigentum und Stellung ein solch rücksichtsloses Spiel getrieben. In der Tat waren die meisten der Unterzeichner der Unabhängigkeitserklärung durch den Krieg verarmt, und viele würden gehängt worden sein, wenn die amerikanische Sache gescheitert wäre. Dieser zu höchst nicht-moderate Akt wurde von der Leidenschaft für die Freiheit motiviert, meist mit einem religiösen Fundament.

Amerika wurde von Puritanern gegründet, die vor Europas kollektivem Selbstmord im Dreißigjährigen Krieg flohen, und es wurde ein Magnet für deutsche wie auch für englische protestantische Radikale, die keinen Anteil am europäischen System hatten, das daraus entstanden war. Sie hatten die katastrophalen Zusammenbrüche der europäischen Gesellschaft erlebt und waren bereit, große Risiken einzugehen, um etwas Besseres zu schaffen.

Noch mehr war der Bürgerkrieg ein Akt der Leidenschaft. 750.000 Amerikaner starben, darunter 465.000 Soldaten der Union. Die südliche Sezession bedrohte die Freiheit der Nordländer nicht im Mindesten und beeinträchtigte ihren Wohlstand nur marginal, und doch starben sie in nunmehr unverständlichen Zahlen, um Sklaven zu befreien. Sie marschierten zu Julia Ward Howes Glanze von Jesaja 63, mit seinem apokalyptischen Bild eines Gottes in blutbefleckten Kleidungsstücken, der die Nationen in einem Weinfass tritt. Lincoln rief den biblischen Gott der Gerechtigkeit in seiner zweiten Amtseinführungsrede zum Verfolgen des Sieges um jeden Preis an.

Auch wenn jeder Tropfen Blut, der von der Peitsche rührte, durch einen zurückgezahlt werden musste, der vom gezogenen Schwert kam, seien die Urteile des Allmächtigen doch insgesamt wahrhaftig und gerecht, sagte Lincoln. Maßlosere Worte wurden nie von einem amerikanischen Führer geäußert. Lincoln hatte nicht erwartet, dass die Menschen ihn mögen würden, wie er Thurlow Weed schrieb: „Männern wird nicht geschmeichelt, indem ihnen gezeigt wird, dass es einen Unterschied in der Bestimmung zwischen dem Allmächtigen und ihnen gibt. Es zu leugnen, wäre in diesem Fall aber zu leugnen, dass es einen Gott gibt, der die Welt regiert.“ Moderne Konservative zitieren oftmals Edmund Burkes Verteidigung der englischen Moderation gegenüber den zerstörerischen Leidenschaften des revolutionären Frankreichs. Das ist schön und gut, aber Burke war ein Zuschauender unserer großen Ereignisse. Burke unterstützte die Amerikanische Revolution, jedoch von einem bequemen Sitz im englischen Parlament aus, nicht von einer Hütte in Valley Forge.

Dies sind historische Betrachtungen, gewiss, und man kann nur einwenden, wenn Alexander auf Aristoteles gehört hätte, oder George III. auf Edmund Burke, oder Jefferson Davis auf Lincoln, dann hätten diese schrecklichen Dinge nicht stattgefunden haben müssen. Umso mehr sollten wir Mäßigung predigen, könnte man auf der Kraft des historischen Zeugnisses ruhend argumentieren, um Wiederholungen leidenschaftlicher Katastrophen abzuwenden. Der deutsche Emigranten-Gelehrte Leo Strauss, eine Inspiration für viele säkulare Konservative, sah in klassischer Moderation ein Gegenmittel gegen die zerstörerischen Leidenschaften, die durch den Nationalsozialismus entfesselt worden waren.

Jeder Geschichtsunterricht der Welt wird den leidenschaftlich Moderaten nicht überzeugen. Weil wir die Aufzeichnungen der Ereignisse nicht abermals abspielen können, vermögen Argumente der Geschichte nie endgültig zu sein.

Deshalb ist Philosophie als Leitfaden zum Verständnis der Geschichte unerlässlich und Kierkegaard ein wichtiger politischer Philosoph. Betrachten Sie seine Herangehensweise an das Paradoxon des Sokrates, im Gegensatz zu Leo Strauss‘ ‚“esoterischer“ Lesart. Wir haben drei ganz unterschiedliche Porträts des Philosophen. Neben Platons Sage gibt es des Komödiendichters Aristophanes‘ ‚abwertende Darstellung eines frechen Eindringlings sowie des Soldaten Xenophons Bild des Sokrates als onkelhaften Charakter, der zu tagtäglichen Angelegenheiten Rat gibt, so etwas wie ein Athener Mark Twain.

Kierkegaard und Strauss versuchten beide den realen Sokrates aus diesen widersprüchlichen Überlieferungen abzuleiten, aber in radikal unterschiedlicher Weise. Strauss argumentiert, dass Sokrates eine öffentliche Version der ungewaschenen Massen und eine esoterische Version lehrte, die von wahren Philosophen verstanden werden kann, die zwischen den Zeilen zu lesen vermögen. Platons Empfehlungen in der Republik, Ehefrauen gemeinsam zu halten, sollten laut Strauss beispielsweise als Reduzierung auf Absurditäten verstanden werden. Die spätere wissenschaftliche Kritik war nicht nett zu Strauss‘ Esoterik (siehe z. B. Moshe Halbertals Buch von 2007, Concealment and Revelation (in etwa: Verschwiegenheit und Offenbarung)). Das Problem mit dem esoterischen Argument ist, dass es dem Analysten eine unbegrenzte Lizenz dazu gibt, seine eigene Sicht auf den glücklosen Gegenstand der Untersuchung zu projizieren.

Kierkegaard schlägt in seiner Dissertation zur Ironie eine verblüffende Lösung vor: alle drei Porträts von Sokrates sind wahr. Er war der Eindringling, der die athenische Jugend gegen ihre Eltern aufbrachte, und der onkelhafte Gesprächspartner gewöhnlicher Männer sowie der Ermittler von Parmenides‘ Theorie des Seins. Kierkegaard fragt: „Aber wie war Sokrates eigentlich? … Die Antwort ist: Sokrates‘ Existenz ist Ironie … Mit Xenophon kann man sicher davon ausgehen, dass Sokrates gern herumlief und mit allen möglichen Leuten sprach, weil jede externe Sache oder ein Ereignis eine Gelegenheit für den immer schlagfertigen Ironiker war; mit Plato könnte man der Vorstellung sicher nahe kommen.“

Der tatsächliche Sokrates lebte und argumentierte in einem Athen, das bereits durch einen 27 Jahr- Krieg mit Sparta ruiniert war, dessen Imperium zerschlagen, dessen Verbündete zerstreut und dessen Kultur demoralisiert war.

Sokrates, nach Kierkegaard, war eher ein Ironiker denn ein Prophet: Er schaute nach hinten, um Fehler der Vergangenheit zu kritisieren, vermochte aber nicht vorwärts zu schauen, um ein Heilmittel für diese Fehlern vorzuschlagen, denn Abhilfe gab es keine. Das Athen der Generation des Sokrates war schon zum Scheitern verurteilt. Der größte Geist der nachfolgenden Generation, nämlich Aristoteles, konnte nichts Besseres tun, als Alexander den Große zu belehren, den Metzger der griechischen Stadtstaaten und den Totengräber ihrer Kultur.

Die Schwäche im klassischen politischen Rationalismus ist in Kierkegaards Sicht einfach: die klassischen Rationalisten waren die unglücklichen Verlierer der großen politischen und geistigen Kämpfe der Wende des 5. Jahrhunderts v. Chr., eine momentane Effloreszenz der geistigen Kritik, die zu spät kam, um zu zählen. Das mag erklären, warum Sokrates Gift zu trinken wählte, statt seine Heimat aufzugeben.

Kierkegaards Porträt des Sokrates dem Ironiker bietet ein Korrektiv zur üblichen Weise, in der Platons Held präsentiert wird, als eine Quelle der ewigen Wahrheiten. Als Philosoph aber erreicht Kierkegaard etwas weitaus wichtigeres. Ich empfehle Michael Wyschogrods Kierkegaard and Heidegger: The Ontology of Being (Kierkegaard und Heidegger: Die Ontologie des Seins), in der elektronischen Ausgabe durch Questia.com erhältlich. Prof Wyschogrod wird für seine religiösen Schriften gefeiert – Rabbi Lord Jonathan Sacks erzählte mir einmal, dass seine Arbeit für die Juden das sei, was einer systematischen Theologie am nähesten käme -, aber Wyschogrod hält noch immer seine 1954er Ausgabe über Kierkegaard und Heidegger für sein wichtigstes Buch. Es ist nicht wirklich möglich eine angemessene Zusammenfassung seiner Ansicht in einem kurzen Essay widerzugeben. Es zu versuchen, verstößt gegen den Geist der Philosophie, welcher verlangt, dass der Lernende die Probleme von Anfang an durchlebt. In der Hoffnung, Interesse für Wyschogrods hervorragendes Buch zu wecken, werde ich gleichwohl mein Bestes tun.

Von den Griechen erben wir zwei Rätsel, welche die Philosophen für die nächsten Tausendundfünfhundert Jahre quälten. Beide beinhalten den Begriff des Seins, den am schwersten zu fassenden Begriff des abstrakten Denkens. Es ist etwas, das die ganze Schöpfung besitzen muss, aber unmöglich zu definieren scheint.

Eine Generation vor Sokrates lehrte Parmenides, dass alle Dinge am Sein teilhaben, und schloss, dass es nur eine Große Sache gäbe. Vielfachheit und Vielfalt waren bloße Illusionen. Zu sagen, dass A eine Form des Seins unterschiedlich von B habe, sei das gleiche wie zu sagen, dass A teil am Nicht-Sein bezogen auf B habe. Aber Nicht-Sein ist etwas, das wir weder aussprechen noch uns vorstellen können, lehrte Parmenides: im Moment, da wir versuchen, übers Nicht-Sein zu denken, denken wir über etwas, und alles davon hat teil am Sein. Ohne das Nicht-Sein können wir A von B nicht unterscheiden, und somit behauptet Parmenides, dass es nicht viele Dinge geben könne, sondern nur ein Ding. Die klassische Exposition dieses Problems ist Platons Dialog „Parmenides“, die ein Gespräch zwischen dem jungen Sokrates und dem älteren Philosophen nacherzählt. Ich bin mir noch nie sicher gewesen, ob man dies als eine Abhandlung in der Ontologie oder eine athenische Vorstufe zu Abbotts und Costellos „Wer ist als erster dran?“-Nummer lesen soll. Beide Lesarten des Dialogs haben wahrscheinlich Recht. Moderne logische Philosophen tun Parmenides‘ Argumentation als Wortspiel ab, aber das ist zu leicht dahingesagt.

Das zweite Paradoxon umfasst die Analyse des Seins. Wie Thomas von Aquin lehrt, gibt es zwei Komponenten des Seins. Die erste ist das Wesen eines Dings, nämlich was es ist (zum Beispiel ein Fisch oder ein Vogel); die zweite ist, ob das Ding überhaupt existiert. Alles muss eine Essenz haben oder die Qualitäten, die es zu einem erkennbaren Objekt machen. Aber nicht alle Essenzen existieren, zum Beispiel „Bohnen jeder Geschmacksrichtung“ oder „Flohpulver“. Wir können magische Dinge mit großer Präzision definieren, aber das bedeutet nicht, dass es sie der Existenz näher bringt.

Deshalb ging Aquin davon aus, dass die Existenz der Essenz vorausgeht. Das war auch die Bedeutung von „Existentialismus“, lange bevor Sartre die Idee in der faden Behauptung degradierte, dass wir unser Wesen definieren könnten, wie immer wir wollten. Es lauert jedoch noch mehr Paradoxes im hohen Gras. Was genau ist Existenz? Sobald wir “Existenz“ zu definieren versuchen, stellen wir Fragen über das Wesen der Existenz an, und schon wieder gehen wir in den Kaninchenbau hinab. Deshalb tun moderne Logiker die ganze Sache als Wortspiel ab.

Wir können aber nicht von der Frage des Seins weichen. Wie Kierkegaard erklärt, wem wir nicht ausweichen können, das ist das Problem unseres Seins. Wir sollten unseren Zustand als sterbliche Menschen überdenken, die zwischen der sterblichen Existenz und der Ewigkeit gefangen sind. Wir leben in irresolubler, manchmal unerträglicher Spannung zwischen der Anziehungskraft des Zeitlichen und des Ewigen. Wir können gewiss die Sterblichkeit aus dem Sinn vertreiben, aber das Gespenst der Ewigkeit beschleicht uns auf die eine oder andere Art und Weise. Wie wir in Bezug auf die Ewigkeit stehen bestimmt letztlich unser Sein. Dies ist keine intellektuelle Übung (unser Intellekt kann eine beliebige Anzahl von Möglichkeiten ausspucken), sondern eine leidenschaftliche Haltung. Weil unser Leben durch Sterblichkeit umschrieben wird und unser Sein eine unlösbare Spannung zwischen Ewigkeit und Sterblichkeit ist, ist es unsere Leidenschaft, die uns definiert – zum Besseren oder Schlechteren.

Was Kierkegaard uns lehrt, ist, dass wir Leidenschaft nicht ableugnen können. Dies kann die Form einer leidenschaftlichen Bewegung in Richtung des Ewigen annehmen oder eine perverse Hinwendung zum Stammes-Fanatismus. Ihrer religiösen Inhalte entkleidet, bricht Kierkegaards Existenzphilosophie mit Martin Heidegger oder Jean-Paul Sartre, die die ängstliche Menschheit zurücklassen, sich ihre eigene Identität zu erfinden. Heidegger verteidigte den Nationalsozialismus als authentischen Ausdruck der deutschen Identität in seiner Zeit. Er „löste“ das Problem des Nicht-Seins durch Gleichsetzung mit Langeweile, Perversion und Zerstörung, eine Idee, die er von Goethes Mephistopheles (welcher wiederum aus dem Kohelet abgeschaut war) abgeschaut hatte. Sartre öffnete die Büchse der Pandora der Selbst-Erfindung, die die kulturelle Kernschmelze der 1960er Jahre inspirierte. Es ist leicht zu sehen, warum vernünftige Menschen die angeblich ewigen Wahrheiten der Griechen Kierkegaards Pulverfaß der Leidenschaft vorziehen.

Das Problem ist, dass die Griechen wie die heutigen Europäer aufgrund mangelnden Interesses an ihrem eigenen Leben ausstarben. Die Europäer sind größtenteils phlegmatisch, rational, sachlich und moderat, immun gegenüber den Verlockungen des Tribalismus, der sie im letzten Jahrhundert in zwei Weltkriegen landen ließ, und der Religion ihrer Vorfahren entfremdet. Die Europäer, so könnte man sagen, sind Stoiker, Anhänger der Philosophie, die sich in der hellenischen Welt in den drei Jahrhunderten nach der Alexandrinischen Eroberung durchsetzte. Und wie die Griechen sterben sie an ihrer eigenen Unfruchtbarkeit. Zum Zeitpunkt, da die Römer auftraten, konnten die Griechen kein Dutzend Regimenter an Phalanx-Männern auftreiben.

Kierkegaard hilft uns die Leidenschaften unserer Gegner zu verstehen, wenn sie zu Verzweiflung und Nihilismus herabsteigen. Noch wichtiger: Er erinnert uns daran, dass ein leidenschaftliches Engagement für die Heiligkeit des Individuums die Institutionen trägt, die wir durch die Revolution und den Bürgerkrieg ererbten. Wir müssen dieses Engagement erneuern oder sie verlieren.

Anmerkung des Übersetzers:

* Moderation im Sinne von gemäßigtem Vorgehen, Ausgleichen und Vermitteln.

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One Response to “SPENGLER: Kierkegaard ist mehr erforderlich denn je”

  1. Wer politisch „denkt“, hat noch gar nicht angefangen zu denken:

    http://www.swupload.com//data/3-Verwandlungen.pdf

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