EIN BRIEF AN F. SCOTT FITZGERALD

Bitte verzeihen Sie, dass ich unvermittelt dazu komme, Ihnen einen Brief zu schreiben, überdies, indem ich so tue, als verstünden Sie Deutsch.

Von Lars Schall

Dear Mr. F. Scott Fitzgerald,

        bitte verzeihen Sie, dass ich unvermittelt dazu komme, Ihnen einen Brief zu schreiben, überdies, indem ich so tue, als verstünden Sie Deutsch. Doch sehen Sie: In der vorangegangenen Nacht, als ich um ca. drei Uhr früh am Morgen weder schlafen noch schreiben konnte, trug ich Interesse an der exakten lexikalischen Definition des „Helden“, und als ich auf elektronischem Wege nachschaute, um es rauszufinden, stieß ich auf ein Zitat von Ihnen, welches mich nunmehr veranlasst, diesen Brief zu schreiben.

        Ich beabsichtigte freilich schon öfter, mich Form eines Briefes an Sie zu wenden, da ich Ihr Werk – und mehr noch, falls das möglich ist: Sie selbst, den einmal gelebt habenden F. Scott Fitzgerald – uneingeschränkt verehre. Ich bin weitab davon, Ihnen schmeicheln zu wollen. Was ich schreibe, ist die Wahrheit, und vielleicht hat es gerade deshalb so lange gedauert, mich Ihnen schriftlich zuzuwenden, weil ich gestehen muss, dass Sie in den Nächten, in denen ich am Schreibtisch sitze, derjenige sind, der mir als Schriftsteller und als Mensch das größte Vorbild von einem „Helden“ abgibt. Das bedarf, denke ich, einer Erklärung, und die will ich Ihnen gerne geben, Mr. Fitzgerald.

        Es hat wohl damit zu tun, dass manchmal ein merkwürdiger Gedanke von mir Besitz ergreift, und ich glaube, dass Sie diesen Gedanken verstehen können. Manchmal denke ich, dass sämtliche Dinge, die ich bisher unternommen habe, und insbesondere: Dass sämtliche Dinge, die ich bisher nicht unternommen habe – nun, dass sich die Summe von all dem, was mein bisheriges Leben darstellt, das wenig Getane und das viele Ungetane, nur noch dann rechtfertigen ließe, so jemand Erhabenes in der Lage wäre, es wie einen Roman zu lesen, wo alles drin stünde, was die Welt sonst nicht weiß. Sicher, da stünden dann viele peinliche Dinge drin – wem sage ich das? Aber gibt es denn nicht auch so unendlich Vieles mehr, das nicht peinlich wäre, sondern im Gegenteil: Gibt es nicht auch immer wieder Momente, Augenblicke und Stunden in unserem Leben, die sind mächtig groß, und das Bittere daran ist späterhin allein die Tatsache, dass niemand da war, sie mit uns zu teilen? Und läuft es demnach nicht darauf hinaus, dass manche der bedeutendsten Momente in unserem Leben wie ein Steinwurf ins ruhige Wasser sind: Der untergehende Stein verursacht ein paar Kreise, fünf oder sechs, die sich eine Zeitlang dehnen, und dann ist es wieder still auf der Oberfläche, und kommt dann ein Mensch vorbei, ist es nicht so, als wäre das Wasser nie bewegt gewesen, ja, schlimmer: als hätte es nie einen Stein gegeben, der untergehen musste?

        Von dem aus beurteilt, was ich über Sie gelesen habe, Mr. Fitzgerald, denke ich, dass Sie dieses Gefühl gut nachempfinden können. Sie waren ja noch am leben, als man sie bisweilen schon buchstäblich für tot gehalten hatte. Was mich angeht, so weiß ich dieses nicht nachzuempfinden – wie das sein muss, wenn ein Mensch, der noch lebt, erfährt, für tot gehalten zu werden.

        Nein, bei Vielem, was Sie und Ihr Leben betrifft, Mr. Fitzgerald, vermag ich nicht mitzureden. Was ich allerdings sehr wohl vermag, ist: Vor Ihnen tiefe Ehrfurcht empfinden. Gerade auch, weil Sie eine Spanne zwischen Erfolg und Misserfolg, Arroganz und Selbstzweifel durchschritten haben, wie ich sie mir selten größer vorstellen kann. Nach ganz oben und von ganz oben nach ganz unten zu kommen – das vollbringen nur die wenigsten Menschen, und in dem Verständnis sind Sie ein Held, Mr. Fitzgerald, da Sie sich vom allzu flüchtigen Glück dieser Welt nicht davon haben abbringen lassen, ein gleichsam grandioser wie sensibler Schriftsteller zu werden. Je mehr Sie in den Augen Ihrer Zeitgenossen geschrumpft sein mögen als Mensch, desto mehr sind Sie als Künstler gewachsen. Das muss, darüber bin ich mir bewusst, mit furchtbaren Schmerzen verbunden gewesen sein, die sich für den Außenstehenden kaum ermessen lassen. Umso intensiver bewundere ich aber, dass Sie trotz aller Verluste und Niederlagen, die Sie im Leben haben einstecken müssen, niemals kapitulierten. Denn gewiss, ungenommen: Ein jeder hat von uns auf Erden seine Verluste und Niederlagen einzustecken, ohne deswegen sogleich aufgeben zu dürfen; doch dabei kommt es immer auch auf die Höhe an, von der aus unser Absturz beginnt. Und die Höhe, die Sie erreicht haben, Mr. Fitzgerald, war eine Höhe, die jene übersteigt, von der andere Menschen, zu denen ich mich zähle, überhaupt zu träumen wagen. Auch das macht Sie zum Helden, jedenfalls zu meinem Helden, an dem ich mir ein Beispiel nehmen kann, um zu wissen, welche Erwartungen ich an das Leben stellen darf und welche nicht. Wenn jemand, der mit einem schriftstellerischen Reichtum gesegnet war wie Sie, es schon nicht geschafft hat, dauerhaften Erfolg zu erfahren, so vergegenwärtige ich mir daran die berechtigte Frage, weshalb dann ich, der durch und durch kleine Mensch, der ich bin, jemals mit dem, was ich zu schreiben beabsichtige, Erfolg haben soll. Und diese Frage macht mich bescheiden, vielleicht sogar demütig, und ich glaube, das kommt mir zugute, alles in allem.

        Der Ihre, für und für.

        P. S.: Das Zitat lautete: „Zeige mir einen Helden und ich schreibe dir eine Tragödie.“

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