Schattenbankensystem wohl größer als gedacht

Bei meinen Streifzügen durch die Weiten und Tiefen des weltweit gespannten Informationsnetzes bin ich auf die Ergebnisse einer aktuellen wissenschaftlichen Arbeit zur Größe des sogenannten Schattenbankensystems gestoßen. Demnach ist dieses sehr viel größer als bislang von Bankenregulierern gemeinhin angenommen.

Von Lars Schall

Doch zunächst ein wenig Begriffsklärung. Was ist das Schattenbankensystem? Darunter versteht man einen im Wesentlichen nicht-regulierten, jenseits der offiziellen Bilanzen existierenden Teilbereich des Finanzsystems, welcher ab Mitte der 1980er Jahre in den USA entstand – und seither immer mehr anwuchs, insbesondere in den Jahren seit der Jahrtausendwende. Heutzutage macht das Schattenbankensystem laut Angaben des Financial Stability Boards circa 25 bis 30 Prozent des gesamten Finanzsystems aus. Die Akteure auf diesem Terrain sind vor allem Finanzmarktteilnehmer ohne Bankenlizenz, ohne Einlagen und ohne direkten Finanzierungsdraht zu Zentralbanken, beispielsweise große Hedgefonds. Gleichwohl werden diese Akteure vielfach von privaten Banken unterstützt und sind mit ihnen als Mittler von Kreditlinien zwischen Investoren und Schuldnern verbandelt. Eine ihrer Stärken gegenüber traditionellen Banken liegt darin, dass die von ihnen vorgenommene Kreditvergabe kosteneffizienter ist. Eine ihrer Schwächen ist dagegen, dass sie zumeist auf eine kurzfristige Finanzierung angewiesen sind.

Ein zentrales Betätigungsfeld der Schattenbanksystem-Akteure ist der Handel im Over-the-Counter-Derivatemarkt. Der OTC-Markt bezeichnet den Finanzhandel, der nicht innerhalb des Verantwortungsbereichs der Börse vonstattengeht, sondern vielmehr einen Freiverkehrsmarkt im Interbankenhandel darstellt. Die Zugangsbarrieren für private Anleger sind sehr hoch. Eine weitere Eigenschaft bei OTC-Geschäften ist eine extrem geringe Transparenz, weswegen diese Art des Geschäfts bevorzugt wird, wenn die Teilnehmer weitestgehend unerkannt bleiben möchten (beispielsweise gegenüber den Aufsichtsbehörden). Im wesentlichen Maße sind die beteiligten Akteure sogenannte “Dark Pools“ (bzw. “Dark Pools of liquidity“), was letztlich versteckte Handelsplattformen sind, die anonyme Transaktionen großer Wertpapier-Pakete unter “dem Deckmantel der Dunkelheit“ erlauben. Alles in allem darf man den OTC-Bereich mit Fug und Recht als eine besondere Art des Insider-Handels bezeichnen.

Die wahre Größe des Schattenbankensystems, das sein Scherflein am Zustandekommen der Finanzkrise, in der wir uns befinden, beitrug, lässt sich schwer abschätzen – hat man es doch mit einem System zu tun, dessen Qualitätsmerkmal vor allem das Verborgene ist. Außerdem kommt es darauf an, wie man es überhaupt definiert; die Fachleute stehen darüber in einer anhaltenden Debatte.

Eine wissenschaftliche Studie, die dieser Tage von Davide Fiaschi (University of Pisa), Imre Kondor (Parmenides Foundation) und Matteo Marsili (Abdus Salam International Centre Theoretical Physics, ICTP) veröffentlicht wurde, versucht nun Licht ins Dunkle zu bringen. (1) Unter dem Titel “The Interrupted Power Law and the Size of Shadow Banking” (zu Deutsch: „Das unterbrochene Potenzgesetz und die Größe des Schattenbankensystems“) gelangt das wissenschaftliche Trio zum Schluss, dass das Schattenbankensystem a) nach dem signifikanten Rückgang von 2008 wieder stark angewachsen ist, und b) ohnehin größer ausfällt, als bisher vermutet worden war. Hierzu wandten sie Methoden der Physik auf ökonomischem Gebiete an, sprich das, was sich als Ökonophysik entwickelt.

Ausgangspunkt der Untersuchung war ein Abbild der globalen Wirtschaft, wie es von der Forbes Global 2000-Liste gezeichnet wird, die die weltgrößten Unternehmen aufzeigt. Ganz oben stehen hierbei gemessen an der Größe der Vermögenswerte die Finanzinstitute (im Jahre 2013 beträgt der Anteil der gesamten auf der FG2000-Liste verzeichneten Vermögenswerte, die von Finanzfirmen gehalten werden, 87 Prozent). Hierzu wird in der Studie vermerkt (ich übersetze vom Englischen ins Deutsche):

„Die Größe der größten Finanzunternehmen, abgesehen davon, dass sie bemerkenswert ist, zeigt auch eine eigenartige Verteilung: die zwölftgrößte Firma auf der FG2000-Liste von 2013, Royal Bank of Scotland, hat 2,13 Billionen US-Dollar in Aktiva (vergleichbar mit dem Bruttoinlandsprodukt seines Ursprungslands; das Vereinigte Königreich hat in der Tat ein BIP von 2,4 Billionen US-Dollar), aber die Größe ist nicht viel kleiner als das größte Unternehmen in der Liste, Fannie Mae, das Aktiva im Wert von 3,2 Billionen US-Dollar hat.“

Laut Angaben von Fiaschi, Kondor und Marsili steht dies im Widerspruch zu allgemein angenommenen Gesetzmäßigkeiten, denn, so bringen sie u. a. vor:

„Wenn Zipfs Gesetz auch für die Top-20-Unternehmen gälte, würden wir erwarten, dass Fannie Mae zehnmal so groß wie die Royal Bank of Scotland wäre (21,3 statt 3,2 Billionen US-Dollar).“

Von zentraler Bedeutung für die Studie ist die Anwendung des Potenzgesetzes (power law), mit dem sich die Größenunterschiede von kleinen zu großen Unternehmungen messen lassen. Die Studie stellt aber fest, dass das für die größten Finanzfirmen nicht gilt. Würde das Potenzgesetz wie gehabt gelten, wäre der Vermögenswert von Fannie Mae gegenüber der Royal Bank of Scotland eben wesentlich größer (ums Zehnfache) – und nicht nur ungefähr 50 Prozent (siehe oben). Fiaschi, Kondor und Marsili gehen davon aus, dass die ins Auge fallende Differenz tatsächlich der Größe des Schattenbankensystems entspricht. Das wiederum heißt, dass der Umfang des Schattenbankensystems der Unterschied zwischen dem Wert der größten Finanzunternehmen und deren projizierten Größe gemäß des Potenzgesetzes ist. Stimmt dies, wäre das Schattenbankensystem um ein etliches größer, als gemeinhin angenommen wird – namentlich über 100 Billionen US-Dollar im Jahre 2012. (2) Und da ist der Wert der von mir erwähnten OTC-Derivate noch gar nicht mitinbegriffen – der nämlich beträgt runde 700 Billionen US-Dollar, was mehr als das Zehnfache des Bruttoinlandsprodukts des gesamten Planeten Erde entspricht. (3) Gleichwohl, die von Fiaschi, Kondor und Marsili geschätzten 100 Billionen US-Dollar plus sind auch kein Pappenstiel. Zum Vergleich: der Berg der (offiziellen) globalen Staatsschulden bringt’s auf “bloße“ 70 Billionen US-Dollar.

Augenfällig ist ferner, dass die Weltwirtschaft laut der FG2000-Liste von Finanzunternehmen beherrscht wird. Die erste Firma auf dieser Liste, die kein Finanzunternehmen ist, ist auf Platz 44 zu finden: General Electric. (4)

Und wenn Sie nun wissen wollen, wer denn wohl die mächtigsten Firmen auf dem Erdenrund sind, so verweise ich auf diesen Artikel auf LarsSchall.com, der sich mit einer anderen bemerkenswerten Studie befasst: „Die Gruppe der 147„.

QUELLE:

(1) Davide Fiaschi, Imre Kondor, Matteo Marsili: “The Interrupted Power Law and the Size of Shadow Banking”, veröffentlicht am 16. September 2013 hier.

(2) Vgl. ebd., Seite 8. Das Financial Stability Board ging im November 2012 zuletzt von einer Größe von 67 Billionen US-Dollar aus. Vgl. ebd., Seite 7.

(3) Auch diesbezüglich gibt es divergierende Schätzungen. Den Betrag von 700 Billionen US-Dollar findet der interessierte Leser beispielsweise hier wiedergegeben.

(4) Bezüglich der FG2000-Liste machen die Autoren darauf aufmerksam, „that the list refers to the previous year. Thus the 2013 FG2000 list collects firms according to their characteristics in 2012. In the present paper the financial sector includes all the firms that in the FG2000 list belong to the following industries: Banking, Diversied Financials, Insurance, Consumer Financial Services, Diversied Insurance, Insurance Brokers, Investment Services, Major Banks, Regional Banks, Rental & Leasing, Life & Health Insurance, Thrifts & Mortgage Finance, Property & Casualty Insurance. Their number ranges from 501 in 2013 list to 597 in 2008 list.“

Both comments and pings are currently closed.

One Response to “Schattenbankensystem wohl größer als gedacht”

  1. C. v. Neuves sagt:

    »Die erste Firma auf dieser Liste, die kein Finanzunternehmen ist, ist auf Platz 44 zu finden: General Electric.«

    http://en.wikipedia.org/wiki/GE_Capital

Subscribe to RSS Feed Lars Schall auf Twitter folgen

Bei weiterer Nutzung dieser Webseite, stimmen Sie der Verwendung von Cookies zu. Mehr Infos

Die Cookie-Einstellungen auf dieser Website sind auf "Cookies zulassen" eingestellt, um das beste Surferlebnis zu ermöglichen. Wenn du diese Website ohne Änderung der Cookie-Einstellungen verwendest oder auf "Akzeptieren" klickst, erklärst du sich damit einverstanden.

Schließen