Erst verschwand das Passagierflugzeug MH370 vom Angesicht der Erde, dann verschwand es aus dem Nachrichten-Zyklus. Die „Schwester“-Maschine MH17 wurde sodann abgeschossen – und ist samt und sonders aller Datenschreiber auch flink von den Titelseiten verschwunden. Stellt sich die Frage: Wird die globale Zivilgesellschaft akzeptieren, dass das Schicksal von Flug MH17 ein Geheimnis wie bei MH370 bleiben wird – oder hat sie selber auch schon ihren Verflüchtigungspunkt erreicht?
Von Pepe Escobar, Übersetzung Lars Schall
Die exklusive Übersetzung des nachfolgenden Artikels, der im englischen Original auf der Website von ASIA TIMES ONLINE erschien, wurde von Pepe Escobar und der Chefredaktion von ASIA TIMES ONLINE für LarsSchall.com ausdrücklich und persönlich genehmigt.
Der 1954 geborene Pepe Escobar aus Sao Paulo, Brasilien ist einer der herausragendsten Journalisten unserer Zeit. Escobar, der vom früheren CIA-Analysten Ray McGovern schlichtweg “der Beste“ genannt wird, arbeitet für Asia Times Online. Darüber hinaus ist er der Autor dreier Bücher: Globalistan: How the Globalized World is Dissolving into Liquid War, Red Zone Blues: a snapshot of Baghdad during the surge und Obama does Globalistan.
Escobar war als Auslandskorrespondent seit 1985 u.a. in London, Mailand, Los Angeles, Paris, Singapur und Bangkok tätig. Seit den späten 1990er Jahren hat er sich auf die Berichterstattung von geopolitischen Geschichten aus dem Nahen Osten und Zentralasien spezialisiert. In diesem Rahmen hat er im letzten Jahrzehnt aus Afghanistan, Pakistan, Irak, Iran, den zentralasiatischen Republiken, China und den USA berichtet. Im Frühjahr/Sommer 2001 war er in Afghanistan / Pakistan, hat den militärischen Führer der Anti-Taliban-Nordallianz, Ahmad Shah Massud, nur wenige Wochen vor dessen Ermordung interviewt, und erreichte als einer der ersten Journalisten die afghanische Hauptstadt Kabul nach dem Rückzug der Taliban. Er ist ein ausgewiesener Experte für das Netzwerk von Pipelines, das die Länder des Nahen und Mittleren Ostens, Zentralasiens, Russlands und Europas umgibt – dem von ihm so getauften “Pipelineistan”.
Für Asia Times Online ist er als ‘The Roving Eye’, das heißt: “Das Wandernde Auge“ unterwegs, um vor allem geopolitische Weltereignisse, aber auch die Art, wie sie in den Medien präsentiert werden, zu diskutieren. Diese Kolumne übersetzen wir mit freundlicher und ausdrücklicher Autorisierung von Pepe Escobar exklusiv für LarsSchall.com ins Deutsche.
Darüber hinaus möchten wir als Ergänzung auf dieses Interview mit Pepe Escobar auf LarsSchall.com hinweisen, “Shifting Ground for Vital Resources“. Eine Gesamtübersicht der Artikel von Pepe Escobar auf LarsSchall.com findet sich hier.
DAS WANDERNDE AUGE
Verflüchtigungspunkt (Vanishing point)
von Pepe Escobar
Zuerst verschwand Passagierflugzeug MH370 von Planet Erde. Dann verschwand MH370 aus dem Nachrichten-Zyklus. Zunächst wurde MH17 durch „Putins Rakete“ abgeschossen – wie Planet Erde mitgeteilt wurde. Dann verschwand auch MH17 aus dem Nachrichten-Zyklus.
Wo ist Baudrillard, wenn wir ihn brauchen? Wäre er noch am Leben, würde der Derwisch des Simulakrums diese beiden malaysischen Flugzeuge bereits als Spiegelbilder dekonstruiert haben; vom absoluten Verschwinden bis hin zur maximalen Exposition, und dann wieder verschwunden. Sie könnten genauso gut auch von Außerirdischen entführt – und abgeschossen – worden sein. Jetzt sehen Sie sie, jetzt nicht.
Die Blackbox, Datenschreiber – alles im Zusammenhang mit MH17 bewegt sich mittlerweile in einem schwarzen Nichts. Die Briten brauchen ewig, um die Daten zu analysieren, und wenn sie dies bereits erledigt haben, sprechen sie nicht darüber.
Das Pentagon, mit 20-20-Vision über der Ukraine, weiß, was passiert ist. Der russische Geheimdienst weiß nicht nur, was passiert ist, sondern bot sogar einen verlockenden Blick darauf in einer offiziellen Präsentation an, die vom „Westen“ weggewischt wurde. Die besten technischen Analysen deuten nicht auf „Putins Rakete“ – eine BUK – hin, sondern auf eine Kombination aus einer R-60-Luft-Luft-Rakete und einer automatischen Kanone eines Su-25.
Ein Leser hat mich auf diese sachgerechte Bewertung des ehemaligen USAF- und Boeing-Ingenieurs Raymond Blohm hingewiesen: „Mit dem richtigen Hinleiten braucht ein Su-25 nicht ganz so schnell wie eine Boeing 777 fliegen. Er muss nur zu einer Raketenfeuerstellung hinkommen. Da die 777 nicht manövrierte, wäre es einfach zu berechnen, wann man an einer bestimmten Stelle am Himmel unterhalb der 777 ankommt. Von dort an ist es die Rakete, die die Geschwindigkeit und die Höhenfähigkeit hat, die 777 zu treffen. (Die R-60 ist eine sehr fähige Rakete.) Nachdem die Rakete einen Motor ausschaltet, liegen sowohl die maximale Geschwindigkeit der 777 und ihre maximale Höhe im Fähigkeitsbereich von Schnelligkeit und Höhe eines Su-25-Kampfjets. Dann kann die Su-25 ihre Kanonenfeuerkraft zeigen.“
Man folge dem Motorwrack. Man folge dem Cockpitwrack. Man folge dem Motiv. Man kann sich gar nicht die geopolitische Kollision der tektonischen Platten vorstellen, würde das Kiewer Regime verantwortlich gemacht werden. Es wäre der Verflüchtigungspunkt für den ganzen – schrägen – Begriff des „unverzichtbaren“ Exzeptionalismus des Imperiums des Chaos.
So wie MH370 völlig verschwunden ist, muss die MH17-Geschichte auch komplett verschwinden. Die Holländer und die Briten könnten irgendwann hervortreten und auf einer hochkarätigen Pressekonferenz der Welt sagen, was His Master’s Voice schließlich redigierte. Dennoch kann man auf einen Rest an Empörung, wenn nicht Verwirrung, einer großen Anzahl von trauernden holländischen Familien zählen. Und man kann sich auf die Empörung Malaysias als Nation verlassen. Wie in: Warum wir? Und nicht nur einmal, sondern zweimal?
Moskau weiß nach der Dekonstruktion der „Logik“ hinter der anhaltenden, hysterischen Dämonisierung von Russland / Putin, dass alles, was sie sagen werden, von der Orwell‘schen Gedankenpolizei für ungültig erklärt werden wird. Doch sosehr His Master’s Voice das kontrolliert, was die Holländer und Briten irgendwann offenbaren könnten, so könnte Russland einen Konterschlag setzen, indem es das entscheidende Szenario gegenüber Malaysia durchsickern lässt. Und Malaysia wird sprechen.
MH370 verschwand wie in einem Videospiel. MH17 wurde wie in einem Videospiel getroffen. Nunmehr verschwinden ihre jeweils dazugehörigen Erzählungen. Es ist, als ob wir in einer winzigen Probe der schwarzen Hypothese der Post-Geschichte lebten.
Der Star der Postmoderne Jean-Francois Lyotard und später der flämische Denker Lieven De Cauter waren unter den wenigen, die sich an der Untersuchung der schwarzen Hypothese versuchten. Die schwarze Hypothese ist die ultimative Dystopie, die in der kosmologischen Zeit des Todes der Sonne spielt, so in etwa 4.5 Milliarden Jahren. Im Grunde geht es um das Überleben der Technowissenschaft über den Tod der Sonne und den Tod der Menschheit selber hinaus.
MH370 mag also in einen Vorraum der schwarzen Hypothese verschwunden sein. Aber MH17 ist viel prosaischer; es könnte eine Operation unter falscher Flagge gewesen sein, die schiefgelaufen ist. Unter den Regeln des Reichs des Chaos muss es auch verschwinden. Die Frage ist, ob die globale Zivilgesellschaft dies akzeptieren wird – oder ob sie auch schon ihren Verflüchtigungspunkt erreicht hat?