Lars Schall sah sich eine wissenschaftliche Arbeit von Jonathan Nitzan und Shimshon Bichler an, in der argumentiert wird, dass die von ihnen so bezeichneten „Kapitalisten“ gar nicht wollten, dass sich die krisengeschüttelte Wirtschaft erholte. Laut Nitzan und Bichler entspricht es vielmehr den Interessen „der Kapitalisten“, die Krise zu verlängern, da diese für sie einen Machtzuwachs bedeute.
Von Lars Schall
Auf der Website der London School of Economics finden Sie hier den zugrundeliegenden Text und erklärende Graphiken.
Jonathan Nitzan und Shimshon Bichler, die jeweils Politische Ökonomie lehren, brachten 2014 in die öffentliche Diskussion ein, dass die von ihnen so bezeichneten „Kapitalisten“ gar nicht wollten, dass sich die krisengeschüttelte Wirtschaft erholte. Laut Nitzan und Bichler entspricht es vielmehr den Interessen „der Kapitalisten“, die Krise zu verlängern, da diese für sie einen Machtzuwachs bedeute.
Kann es tatsächlich wahr sein, dass „die Kapitalisten” die Krise dem Wachstum vorziehen? „Auf den ersten Blick klingt die Idee albern.“ Denn: „Gewinn und Wachstum gehen Hand in Hand“, und so „die Kapitalisten“ Profite einstreichen, „steigen echte Investitionen an und die Wirtschaft gedeiht, und wenn die Wirtschaft boomt, steigen die Profite der Kapitalisten“. Tatsächlich hänge die Antwort. ob „die Kapitalisten“ eine wirtschaftliche Erholung und mehr Wachstum wollen, davon ab, was Kapitalisten motiviere.
Was also motiviert Kapitalisten? Nitzan und Bichler antworten:
„Heutzutage ist das Hauptziel führender Kapitalisten und Verbände nicht absoluter Nutzen, sondern relative Macht. Ihre wirkliche Absicht ist nicht, hedonistisches Vergnügen zu maximieren, sondern ,besser zu sein als der Durchschnitt‘. Ihr höchstes Ziel ist nicht, mehr Güter und Dienstleistungen zu konsumieren (obwohl dies auch geschieht), sondern ihre Macht über andere zu vergrößern. Und der Schlüssel, mit dem sie diese Macht messen, ist ihr Anteil bei der Verteilung von Einkommen und Vermögenswerten.“ (1)
Hierbei gälte der Tatsache Beachtung zu schenken, „dass Kapitalisten in dieser Angelegenheit keine Wahl haben. ,Besser zu sein als der Durchschnitt‘“ entspräche keineswegs einer „subjektiven Vorliebe“, wie man annehmen könnte, sondern stelle „eine feste Regel“ dar, „die von der konflikthaltigen Natur des Systems diktiert und durchgesetzt wird. Der Kapitalismus lässt Kapitalisten den Kampf mit anderen Gruppen in der Gesellschaft ebenso aufnehmen wie miteinander. Und in diesem facettenreichen Kampf um größere Macht ist die Messlatte immer relativ. Kapitalisten – und die Verbände, durch die sie operieren – sind gezwungen und dafür konditioniert, differentiell Gewinn anzuhäufen; nicht ihren persönlichen Nutzen zu vermehren, sondern ihre relativen Einkünfte. Ob sie nun private Besitzer wie Warren Buffett oder institutionelle Investoren wie Bill Gross sind, sie alle streben nicht danach, Ergebnisse zu erzielen, sondern überdurchschnittlich abzuschneiden, und überdurchschnittliches Abschneiden bedeutet Umverteilung. Kapitalisten, die besser sind als der Durchschnitt, verteilen Einkommen und Vermögenswerte zu ihren Gunsten um. Diese Umverteilung erhöht ihren Anteil vom Ganzen: und ein größerer Anteil vom Ganzen heißt größere angesammelte Macht gegen andere. Letztlich häufen Kapitalisten nicht hedonistisches Vergnügen, sondern relative Macht bezogen auf andere an.
Wenn man jetzt Kapitalisten durch die Linse relativer Macht betrachtet, dann ist die Idee, dass sie Wachstum lieben und wirtschaftliche Erholung anstreben sollten, nicht länger selbstverständlich. Tatsächlich scheint genau das Gegenteil der Fall zu sein. Wenn irgendeine Gruppe ihre relative Macht innerhalb der Gesellschaft vergrößern will, muss diese Gruppe in der Lage sein, andere in der Gesellschaft zu sabotieren. Diese Regel lässt sich aus der Logik von Machtbeziehungen selbst ableiten.
Sie bedeutet, dass Kapitalisten, die ihren ,Einkommensanteil gleich Macht‘ vergrößern wollen, den Rest der Gesellschaft bedrohen oder unterminieren müssen.“ Eine der „Schlüsselwaffen“, die „sie in diesem Machtkampf benutzen – manchmal bewusst, wenn auch gewöhnlich durch Versäumnis“, trage den Namen „Arbeitslosigkeit“. (2)
Falls, wie Nitzan und Bichler nicht zuletzt anhand ausgewerteten Datenmaterials nahelegen, „die Kapitalisten“ mitnichten „Nutzen durch Konsum, sondern Zuwachs an Macht durch Umverteilung“ anstreben, gelingt ihnen die Umsetzung nicht, „indem sie Investitionen erhöhen und das Wachstum ankurbeln.“ Sondern wie? „Indem sie zulassen, dass die Arbeitslosigkeit zunimmt und Arbeitsplätze knapp werden. Wir sind eindeutig nicht ,alle im selben Boot‘. Es gibt einen Verteilungskampf um Macht, und dieser Kampf ist nicht eine bloße ,soziologische‘ Angelegenheit. Es ist der Kern unserer politischen Ökonomie, und wir benötigen ein neues theoretisches Gerüst, um es zu verstehen.“ (3)
Nitzan und Bichler leiten aus ihrer Forschung ab, dass keine Art von makroökonomischer Politik die Gesamtkonsequenzen dieses Verteilungskampfes auszugleichen in der Lage wäre – und zwar: „auch nicht annähernd“, wie sie schreiben. „Bis zum Ende der 70er Jahre war das Haushaltsdefizit gering, dennoch boomte Amerika. Und warum? Weil die Steuerprogression, Abtretungszahlungen und sozialen Programme die Einkommensverteilung weniger ungleich machten. In den frühen 80er Jahren wurde dieses Verhältnis umgekehrt. Obwohl das Haushaltsdefizit sich aufblähte und die Zinssätze fielen, verlangsamte sich das Wirtschaftswachstum. Neue Methoden der Umverteilung zugunsten der Reichen haben dafür gesorgt, dass der Anteil des reichsten 1 Prozent hochschnellte und machten Stagnation zur Norm.“ (4)
Die Politiker in Washington könnten „nicht länger um den heißen Brei herumreden. Auf der einen Seite ist die Konzentration von Amerikas Einkommen und Vermögenswerten auf einem Rekordhöchststand, nachdem riesige Finanzspritzen und massive quantitative Lockerungen für einen Auftrieb gesorgt hatten. Auf der anderen Seite bleibt die Langzeitarbeitslosigkeit auf einem Nachkriegshöchststand, während die Schaffung von Arbeitsplätzen zum Stillstand gekommen ist. Irgendwann wird diese Situation umgekehrt werden. Die einzige Frage ist, ob sie durch eine neue Richtung in der Politik umgekehrt wird oder durch die Katastrophe einer systemischen Krise.“ (5)
(1) Jonathan Nitzan / Shimshon Bichler: “Profit from Crisis: Why capitalists do not want recovery, and what that means for America”, veröffentlicht von Frontline am 16. April 2014 unter: http://www.frontline.in/world-affairs/profit-from-crisis/article5915462.ece. Der Artikel basiert auf der wissenschaftlichen Arbeit von Shimshon Bichler und Jonathan Nitzan, “Can Capitalists Afford Recovery? Economic Policy When Capital is Power”, Working Papers on Capital as Power, No. 2013/01, Oktober 2013, Seiten 1 36, online unter: http://bnarchives.yorku.ca/377/.
(2) Vgl. ebd.
(3) Vgl. ebd.
(4) Vgl. ebd.
(5) Vgl. ebd.
Ich stimme Jonathan Nitzan / Shimshon Bichler zu.
Die Erhöhung relativer Einkünfte und Steigerung relativer Macht sind durch Umverteilung leichter und risikofreier zu erreichen als durch Investitionen.
Dafür steigt aber das relative Risiko von Demonstrationen bis hin zu Aufständen.