Wie nahe am Siedepunkt stand die Ost-West-Konfrontation zu Beginn der Präsidentschaft von Ronald Reagan in den Vereinigten Staaten? Und welche Konsequenzen hätte ein Übersieden haben können? Es folgt der Versuch, eine Antwort nahezulegen.
Von Lars Schall
Fragt man in der Öffentlichkeit nach den Gründen für den Niedergang der UdSSR, vernimmt man zumeist ein ungefähres Raunen, in dem Worte wie „ineffiziente Kommandowirtschaft“ und „Wettrüsten mit den USA“ vorkommen. Dass es ein zentrales Instrument der US-Regierung im Weißen Haus unter Ronald Reagan gab, um die Sowjetunion bewusst und willentlich in die Knie zu zwingen, vernimmt man dagegen selten bis nie. Und doch gab es solch ein Bindeglied zwischen Politik, Militär und Geheimdiensten, das „Komitee für Täuschungsoperationen“ (Deception Committee), geleitet von Reagans CIA-Chef William Casey. Dieses Komitee ließ in den 1980er Jahren beispielsweise sowjetische Gasleitungen mit Computerchips und Trojanern sabotieren oder verwickelte die Sowjets durch die US Navy und US Air Force in Katz-und-Maus-Spiele vor der sowjetischen Haustür, wie dem wichtigsten Stützpunkt der Sowjetmarine in Murmansk. Große See- und Flugmanöver gaukelten Übungen zum atomaren Erstschlag vor – was teilweise ein Vabanque-Spiel mit dem 3. Weltkrieg war. Das Ziel des Komitees: Stiftung von „Verunsicherung und Demütigung bei gleichzeitiger Demonstration von Stärke und technischer Überlegenheit.“
Die Begrifflichkeit „Vabanque-Spiel mit dem 3. Weltkrieg“ wird hier nicht leichtfertig benutzt. Setzt man die Erwartungshaltung der Gegenseite der USA in Rechnung, hätte das Spiel schnell daneben gehen können. Im Februar 1990 wurde dem President’s Foreign Intelligence Advisory Board (PFIAB), einem Gremium, welches den US-Präsidenten in nachrichtendienstlichen Angelegenheiten berät, ein über 100 Seiten umfassender Bericht namens “The Soviet ‘War Scare‘” vorgelegt. Der Bericht zog das Fazit, dass die Angst der Sowjetführung vor einem Atombombenangriff der USA real gewesen sei, insbesondere Anfang November 1983 anlässlich der NATO-Übung Able Archer. „1983 könnten wir unsere Beziehungen zur Sowjetunion versehentlich aufs Äußerste angespannt haben“, stand in dem Bericht geschrieben. „Die sowjetische Führung hatte ihr strategisches Denken geändert und ging in der Tat davon aus, dass die USA eine entscheidende strategische Überlegenheit anstrebten, um möglicherweise einen atomaren Erstschlag zu starten.“
Auf der Klaviatur des „gottlosen Kommunismus“ spielend, hatte Ronald Reagan die Sowjetunion in einer Rede an die National Association of Evangelicals zu Beginn des Jahres 1983 erstmals als das „Reich des Bösen“ bezeichnet. Wenige Tage darauf kündigte er den Aufbau eines Abwehrschirms gegen Interkontinentalraketen an, der als Strategic Defense Initiative (SDI) bekannt wurde. Bereits beschlossene Sache war die Stationierung von Pershing II-Raketen zum Jahresende in Europa. Für zusätzliche Spannung sorgte der Abschuss einer Korean-Airlines-Maschine durch einen sowjetischen Abfangjäger am 1. September 1983, dem alle 269 Passagiere zum Opfer fielen.
Wie später bekannt wurde, entgingen Ost und West im gleichen Monat nur knapp der atomaren Konfrontation, als das Raketenfrühwarnsystem der Sowjets aufgrund einer Fehlermeldung den Start von US-Atomraketen in Richtung Warschauer Pakt signalisierte. Der damals leitende Offizier in der Kommandozentrale der sowjetischen Satellitenüberwachung Stanislaw Petrow berichtete nachmalig über die Ereignisse am Morgen des 26. September 1983: „Der Alarm ging gegen 0.15 Uhr los, vollkommen unerwartet. Wir hatten das oft geprobt, aber nun war es ernst. Die ganze Festbeleuchtung ging an, die Sirenen heulten, und auf den Bildschirmen blinkte in großen, roten Buchstaben: ;Raketenstart‘ mit maximaler Wahrscheinlichkeit. Es war ein Schock, wie ein Blitz aus heiterem Himmel.“
Petrow kamen Zweifel, da der Computer zunächst nur den Start einer einzelnen Rakete anzeigte. „Wir hatten erwartet, dass der Gegner massiv zuschlägt. Das haben die amerikanischen Falken oft genug gesagt: Wir schlagen, wenn erforderlich, auch als erste, mit einem Massenstart zu.“
Das Computersystem M-10 schickte ein automatisches Signal an den Generalstab in Moskau und weitere übergeordnete Kommandoebenen. Seine erste Meldung gegenüber seinen Vorgesetzten erstatte Petrow nach zwei Minuten. „Soviel Zeit hatte ich, um die Situation zu analysieren. Ich meldete einen Fehlalarm, und noch während ich mit dem Generalstab telefonierte, meldete der Computer einen zweiten Raketenstart und dann einen dritten, vierten und fünften. Die Sirene ging wieder los, was mein Vorgesetzter durch das Telefon auch direkt mitbekam. Aber ich sagte: Auch das ist falscher Alarm. Ich kläre, was hier passiert, und melde mich dann noch einmal.“
Petrow machte in diesen kritischen Momenten stutzig, „dass es fünf Einzelstarts waren und der Computer die Wahrscheinlichkeit eines realen Angriffs auch noch als maximal einstufte. Die amerikanische Raketenbasis befand sich zum Zeitpunkt des Alarms genau an der Tag-Nacht-Grenze, und angesichts dessen hätte das System nicht die maximale Wahrscheinlichkeit angeben dürfen. Das alles waren für mich Indizien, die mich an der Richtigkeit des Alarms zweifeln ließen.“
Gleichwohl er sich nicht sicher war, ob seine Einschätzung zutraf, berichtete Petrow binnen weniger Minuten fünf Mal an seine Vorgesetzten: „Ich melde Ihnen eine Fehlinformation“, und trug so dazu bei, dass aus der falschen Meldung kein tödlicher Ernst wurde.
Knapp anderthalb Monate später sollte das NATO-Kommandostabsmanöver Able Archer folgen, die Simulation eines Atomkriegs. Diese europaweite Übung fand jedes Jahr statt, doch 1983 hatte es Änderungen an der Durchführung gegeben, die der sowjetischen Spionage nicht verborgen blieben. Es waren diese Änderungen, die „wahrscheinlich die sowjetischen Ängste schürten“, resümierte der streng geheim eingestufte PFIAB-Report, für den die Autoren Zugang zu allen US-Geheimdienstakten besaßen, die über die Vorfälle vom Herbst 1983 entstanden. Zu den Änderungen gehörte der Test neuer Kommunikationsmethoden und ein Praxis-Drill, bei dem die NATO-Streitkräfte mit realistisch aussehenden Sprengkopfattrappen eine groß angelegte Freisetzung von Kernwaffen übten. Das ursprüngliche Szenario sah die Beteiligung vieler hochrangiger Regierungsmitglieder der NATO-Staaten vor, einschließlich des US-Verteidigungsministers, des Vorsitzenden des US-Generalstabs und gar des US-Präsidenten selbst. Diese und weitere Änderungen, die allesamt eine provokativere Haltung an den Tag legten, führten dazu, dass der KGB und der sowjetische Militärgeheimdienst den Befehl erhielten, Bericht über erhöhte Alarmbereitschaft auf US-Basen in Europa zu erstatten und Ausschau nach anderen Anzeichen eines bevorstehenden Atombombenangriffs zu halten. Dem Prüfungsbericht für das PFIAB ist zu entnehmen, dass solche Vorsichtsmaßnahmen ehedem nur in tatsächlichen Krisen von den Sowjets ergriffen worden waren. Die sowjetische Militärführung könnte „ernsthaft besorgt“ gewesen sein, „dass die USA Able Archer 83 als Tarnung für den Start eines wirklichen Angriffs nutzen würden“. Die Hinweise „zeigen deutlich, dass die Kriegsangst real war, zumindest in den Köpfen einiger sowjetischer Führer.“
Anhand der Unterlagen, die für den Bericht geprüft wurden, trieb die Sowjets die Sorge um, der Westen könne die Entscheidung fällen, die UdSSR anzugreifen, weswegen sich die Überzeugung breitgemacht habe, einen Präventivschlag in Erwägung zu ziehen, sobald sich erste Warnsignale für ein solches Vorgehen der USA ergäben. Zum Aufspüren derartiger Anzeichen wurde 1982 unter dem neuen Staatsoberhaupt der Sowjetunion Juri Andropow die Operation RYaN initiiert (RYaN ist eine Abkürzung für Raketno-Yadernoye Napadenie, dem russischen Begriff für „Atomraketenangriff”). Als KGB-Chef hatte Andropow im Mai 1981 auf einer großen KGB-Konferenz erklärt, die Reagan-Regierung bereite aktiv den Krieg vor und ein atomarer Erstschlag sei möglich. Im Juni 1983 warnte Andropow den US-Gesandten Averell Harriman, die Provokationen der Reagan-Regierung bewegten die zwei Supermächte in die Nähe der „gefährlichen ,roten Linie‘“ eines Atomkriegs. Schon 1979 startete der KGB ein Computermodell, das Veränderungen beim militärischen Kräfteverhältnis zwischen Ost und West messen sollte, um auf vermeintlich „objektive“ Weise anzuzeigen, wann der Westen einen Überraschungsangriff starten könnte. Das Computermodell wurde zum Kern der Operation RYaN gemacht und jeden Monat ging ein daraus resultierender Bericht im Politbüro ein.
Einige Informationen, die dem Prüfungsbericht für das PFIAB zugrunde lagen, stammten wahrscheinlich vom ehemaligen KGB-Spion Oleg Gordievsky, dem bisweilen vorgeworfen wird, „den Blick auf ,Able Archer 83‘ nachhaltig verfälscht“ zu haben. Bei der Angst der Sowjets vor einem Überraschungsangriff anlässlich der Übung handele es sich um „eine Legende“, und „die Behauptung, Gordijewskis drastische Berichte hätten dazu geführt, dass ,Able Archer 83‘ nicht bis ins letzte Detail durchgespielt oder sogar abgebrochen wurde, um die Sowjetunion nicht weiter zu provozieren und eine echte atomare Eskalation zu verhindern, ist Spekulation.“ Der Historiker Mark Kramer von der Universität Harvard, der die Protokolle der Sitzungen des Politbüros der KPdSU von 1983 und Anfang 1984 einer Prüfung unterzog, befand in einem 2013 veröffentlichten Essay: „So angespannt die Atmosphäre im Jahre 1983 auch immer gewesen sein mag, die Führer in Moskau zeigten nie irgendeine Angst vor einem unmittelbar bevorstehenden Atomschlag gegen die UdSSR.“
Im PFIAB-Bericht, der erst zwei Jahre nach Kramers Essay freigegeben wurde und teilweise geschwärzte Abschnitte aufweist, klingt die Sache etwas anders: „Es besteht wenig Zweifel daran, dass die Sowjets über Able Archer wirklich besorgt waren; jedoch ist die Tiefe dieser Sorge schwer zu beurteilen.“ Und: „Es scheint, dass zumindest einige sowjetische Kräfte die Vorbereitung trafen, einem unter der Tarnung von Able Archer gestarteten NATO-Angriff zuvorzukommen.“ Die Vorsichtsmaßnahmen, die Moskau vis-à-vis Able Archer ergriff, umfassten immerhin über 36 Aufklärungsflüge, „bedeutend mehr“ als bei vorherigen solchen Übungen. Sowohl die Handlungen der Sowjets wie auch der Warschauer Pakt-Streitkräfte seien vom Umfang her „beispiellos“ gewesen. Etliche dieser Maßnahmen sind in dem PFIAB-Bericht geschwärzt. Das gilt auch für die Gewinnung von Informationen aus dem Abhören von Funksignalen und der Erfassung elektronischer Signale, in der Geheimdienstsprache Signals Intelligence (SIGINT) genannt. Dennoch kann dem Bericht entnommen werden, dass die westlichen Nachrichtendienste solche Signale abfingen, die die sowjetische Angst vor Able Archer zeigten. Hätten diese Unterlagen nicht vorgelegen, wäre die Able Archer-Übung „wahrscheinlich noch wohlwollender betrachtet worden, als sie war“, so der Report. Insgesamt hätte die Situation „extrem gefährlich” werden können, wenn die US-Handlungen von den Sowjets während der Übung als Vorbereitungen eines tatsächlichen Angriffs fehlgedeutet worden wären.
Zum Glück hätten „die für die Able Archer-Übung verantwortlichen Offiziere dieses Risiko minimiert, indem sie angesichts der Hinweise, dass sich Teile der sowjetischen Streitkräfte auf eine ungewöhnliche Alarmstufe bewegten, nichts unternahmen“.Die Entscheidung, trotz dieser Hinweise keine höhere westliche Alarmbereitschaft auszulösen, traf Generalleutnant Leonard Perroots in seiner Funktion als stellvertretender Stabschef für Geheimdienstinformationen der US-Luftstreitkräfte in Europa. Sie wird mit den Worten „zufällig, wenn auch wenig sachkundig“ beschrieben. Die verantwortlichen Offiziere hätten nur „aus Instinkt richtig gehandelt“, denn in den Jahren zuvor seien sie nicht über „die mögliche Bedeutung des Wandels im militärischen und politischen Denken“ der Sowjets unterrichtet worden.
Der US-Präsident habe zur sowjetischen Haltung falsche Einschätzungen erhalten, „die die Risiken für die Vereinigten Staaten unterschätzten“. Der Prüfungsbericht forderte eine „viel bessere nachrichtendienstliche Berichterstattung und Einschätzung der Denkweise der sowjetischen Führung – ihrer ideologischen / politischen Instinkte und Wahrnehmungen.“
Benjamin Fischer veröffentlichte als Historiker am Center for the Study of Intelligence der CIA eine Studie namens The 1983 War Scare in US-Soviet Relations, in der das Fazit gezogen wurde, dass die sowjetischen Ängste vor einem atomaren Angriff der USA „zwar übertrieben, aber kaum verrückt“ gewesen seien. Das Zurückweisen von legitimen sowjetischen Befürchtungen als pure Propaganda habe die USA anfällig für eine Reihe von sehr realen Gefahren gemacht, einschließlich eines präventiven Angriffs der Sowjets, der rein auf Fehlinformationen hätte basieren können.
Fischers Darstellung zeigte auch auf, dass das US-Militär den sowjetischen Luftraum seit Beginn der Reagan-Regierung immer wieder auf der Suche nach Schwachstellen testete. Ferner seien die Operation RYaN und die Dringlichkeit, mit der nachrichtendienstliche Erkenntnisse gesammelt wurden, mehr als ein „Schnaufen“ gewesen, und Able Archer im Jahre 1983 habe als „letzter Paroxysmus am Ende des Kalten Krieges“ gestanden.
Im Februar 1986 machte Mikhail Gorbatschow – seit März 1985 der neue Generalsekretär des Zentralkomitees der KPdSU – deutlich: „Die Situation in der Welt war in den Nachkriegsjahrzehnten vielleicht niemals so explosiv und daher schwieriger und ungünstiger als in der ersten Hälfte der 1980er Jahre.“
Was passiert wäre, wenn die Russen mit Atombomben zugeschlagen hätten, erklärte George Lee Butler am 11. März 1999 in einer Rede vor dem Canadian Network Against Nuclear Weapons. Butler war unter anderem Oberbefehlshaber des United States Strategic Command, Kommandeur des Strategic Air Command und Direktor des Joint Strategic Target Planning Staff auf der Offutt Air Force Base im US-Bundesstaat Nebraska. Insgesamt 3 Jahre lang diente Butler dem US-Präsidenten als Kernberater in Fragen eines atomaren Kriegs, indem er hauptverantwortlich für den Single Integrated Operational Plan (SIOP) war – den Gesamtplan der Vereinigten Staaten von Amerika für einen atomaren Krieg gegen die Sowjetunion / den Warschauer Pakt. In dieser Funktion hatte Butler jederzeit – „Tag oder Nacht, sieben Tage die Woche, 365 Tage im Jahr“ – auf den Moment vorbereitet zu sein, in dem der Präsident der Vereinigten Staaten anrufen würde, um ihm telefonisch mitzuteilen: „General, die Nation wird atomar angegriffen. Ich muss binnen Minuten entscheiden, wie zu reagieren ist. Was ist Ihre Empfehlung hinsichtlich der Art unserer Antwort?“
Während seiner Rede schilderte Butler, wie er in diesen drei Jahren jeden Monat an einer Übung namens Missile Threat Conference teilnahm. Diese Übungen begannen „praktisch ohne Ausnahme“ stets „mit einem Szenario“, bei dem sich zunächst eine einzelne feindliche Kernsprengkopfrakete den USA näherte, „dann mehrere, Dutzende, dann Hunderte und schließlich Tausende“. Unterdessen der Angriff und seine Umstände nach der ersten Sichtung bewertet und charakterisiert wurden, blieben dem US-Präsidenten für eine Entscheidung über die Reaktion 12 Minuten Zeit. Diese Entscheidung wäre mit der Entscheidung verbunden gewesen, die zuvor eine halbe Welt weit entfernt einen solchen Angriff eingeleitet hätte, und beide Entscheidungen zusammen würden „nicht nur das Überleben der Antagonisten“ gefährdet haben, „sondern das Schicksal der Menschheit in ihrer Gesamtheit“. Innerhalb eines Zeitraums von mehreren Stunden wären „rund 20.000 Kernsprengköpfe“ explodiert. Trauriger Weise, so Butler, hätten „die gelassenen Praktiker der atomaren Kunst nie die ganzheitlichen Folgen eines solchen Angriffs verstanden“, und das gälte noch heute. Er selber habe sie auch nie verstanden, bis er die Verantwortung für den atomaren Kriegsplan der USA übertragen bekam.
Damals im Januar 1991, als der Kalte Krieg kurz zuvor mit der Unterzeichnung des Vertrags über Konventionelle Streitkräfte in Europa für beendet erklärt worden war, erhielt Butler erstmals seit 30 Jahren vollen Zugang zu diesem Plan. „Wenn ich auch ein Gefühl dafür hatte, was er umfasste, war ich doch geschockt zu sehen, dass er tatsächlich durch 12.500 Ziele im früheren Warschauer Pakt definiert war, die durch einige Zehntausend Atomwaffen anzugreifen waren, in den schlimmsten Umständen praktisch gleichzeitig, was das ist, was wir immer annahmen. Ich machte es mir zur Aufgabe, jedes dieser Ziele detailliert anzuschauen. Ich bezweifle, dass das jemals von irgendjemand anderem durchgeführt worden ist, weil der Kriegsplan in Abschnitte unterteilt war, und jeder Abschnitt fiel in die Verantwortung einer jeweils anderen Gruppe von Leuten. Meine Mitarbeiter waren entsetzt, als ich ihnen sagte, ich würde die Absicht hegen, mir jedes einzelne Ziel anzusehen. Meine Begründung war sehr einfach. Wenn es nur ein Ziel gäbe, würde ich jedes erdenkliche Detail darüber wissen müssen; warum es ausgewählt wurde, von welcher Art von Waffe es getroffen werden würde, was die Folgen wären. Mein Standpunkt war einfach: Warum sollte ich mich in irgendeiner Weise weniger verantwortlich fühlen, nur weil es eine große Anzahl von Zielen gab. Ich wollte mir jedes davon ansehen.
Am Ende dieser Übung verstand ich endlich die wahre Bedeutung von MAD, Mutually Assured Destruction [zu Deutsch in etwa: „wechselseitig zugesicherte Zerstörung“, woraus sich das sogenannte „Gleichgewicht des Schreckens“ bzw. die „MAD-Doktrin“ ableitete. Anm. d. Übers.]. Mit der möglichen Ausnahme des sowjetischen Atomkriegsplanes war dies das absurdeste und unverantwortlichste Dokument, das ich je in meinem Leben überprüft hatte. Ich war genug empört darüber, dass ich meine Vorgesetzten in Washington auf meine Bedenken hinwies, während die Prüfung fortschritt, und die kürzeste Version von all dem ist, dass ich am Ende einer drei Jahrzehnte dauernden Reise jene Wahrheit voll und ganz verstand, die mich nun so seltsam erscheinen lässt. Und diese ist: Wir entkamen dem Kalten Krieg ohne nuklearen Holocaust durch eine Mischung aus Geschick, Glück und göttlicher Intervention, und ich vermute das letztere im größten Maße.“
Eine solche Mischung dürfte während der ersten Regierungszeit von Ronald Reagan in der einen oder anderen Form mit von der Partie gewesen sein, als die Politik der USA gegenüber der UdSSR auf zwei Gleisen durchgeführt wurde. „Der erste umfasste normale diplomatische Beziehungen und Rüstungskontrollverhandlungen. Der zweite war eine verdeckte politisch-psychologische Bemühung, sowjetische Schwachstellen anzugreifen und das System zu unterminieren.“ Es war eine „geheime Offensive an wirtschaftlichen, geostrategischen und psychologischen Fronten, die entworfen worden war, um die sowjetische Macht einzuschränken und zu schwächen.“ CIA-Historiker Benjamin Fischer befindet, die Züge der US-Politik seien 1981-83 eher auf dem zweiten Gleis unterwegs gewesen, und die Operation RYaN könne als sowjetische Reaktion auf diese „psychologischen Kriegsführungsoperationen“, kurz PSYOP genannt, entstanden sein. Die „stille Kampagne“ der Reagan-Regierung war „praktisch unsichtbar, außer für einen kleinen Kreis von Beratern im Weißen Haus und im Pentagon – und natürlich für den Kreml.“ Die PSYOP-Aktivitäten sollten bewusst mit dem „Image des Präsidenten als einem ,Cowboy‘ und rücksichtslosen Praktiker atomarer Politik“ spielen, so dass die zunehmend ratloseren Sowjets sich fragen würden, was wohl als nächstes auf sie zukäme. Dazu gehörten unvermittelte Flugmanöver über dem Nordpol, das wiederholte Eindringen von Jagdstaffeln im sowjetischen Luftraum, und die Entsendung von Kampfschiffen in die Nähe von wichtigen sowjetischen Marinestützpunkten wie auf den Kamtschatka- und Kola-Halbinseln. Mit letzterem wollte man die Fähigkeit demonstrieren, jederzeit „Flugzeugträger-Kampfgruppen in der Nähe von sensiblen militärischen und industriellen Bereichen einzusetzen, ohne erkannt oder herausgefordert zu werden. Mit ausgefeilten und sorgfältig geprobten Täuschungs- und Verleugnungs-Techniken entzog sich die Marine dem massiven Ozean-Aufklärungssystem und dem Frühwarn-System der UdSSR.“
John Lehman, von 1981 bis 1987 US-Marineminister, sagte später in einer deutsch-französischen TV-Dokumentation zu diesen PSYOP-Aktivitäten: „Wir wussten, dass jeder Fehler einen unbeabsichtigten Krieg provozieren könnte.“
Doch die Sowjets bewahrten die Ruhe, wie Reagans Außenminister Alexander Haig anerkannte: sie „blieben sehr, sehr moderat, sehr, sehr verantwortungsbewusst während der ersten drei Jahre dieser Administration. Ich war verblüfft über ihre Geduld.“
QUELLEN:
Ankündigungstext zu „Täuschung – Die Methode Reagan“, eine 53-minütige Fernsehdokumentation von Dirk Pohlmann, die am 5. Mai 2015 um 23:00 Uhr bei ARTE ausgestrahlt wurde, unter: http://www.arte.tv/guide/de/050296-000/taeuschung-die-methode-reagan
Christopher Woolf: “Declassified document casts a new light on Soviet war scare in 1983“, veröffentlicht von PRI am 24. November 2015 unter:
http://www.pri.org/stories/2015-11-24/declassified-document-casts-new-light-soviet-war-scare-1983
„Der rote Knopf hat nie funktioniert“, veröffentlicht von FAZ.net am 18. Februar 2013 unter:
http://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/menschen/offizier-petrow-im-gespraech-der-rote-knopf-hat-nie-funktioniert-12084911.html?printPagedArticle=true#pageIndex_2
Ingeborg Jacobs: „Stanislaw Petrow – der Mann, der den Atomkrieg verhinderte“, veröffentlicht von Telepolis am 2. November 2015 unter: http://www.heise.de/tp/artikel/46/46452/1.html
David E. Hoffman: “In 1983 ‘war scare,’ Soviet leadership feared nuclear surprise attack by U.S.“, veröffentlicht von The Washington Post am 24. Oktober 2015 unter:
https://www.washingtonpost.com/world/national-security/in-1983-war-scare-soviet-leadership-feared-nuclear-surprise-attack-by-us/2015/10/24/15a289b4-7904-11e5-a958-d889faf561dc_story.html
Nate Jones, Tom Blanton, Lauren Harper: “The 1983 War Scare Declassified and For Real“, National Security Archive Electronic Briefing Book No. 533, veröffentlciht am 24. Oktober 2015 unter: http://nsarchive.gwu.edu/nukevault/ebb533-The-Able-Archer-War-Scare-Declassified-PFIAB-Report-Released/
Nate Jones: “The 1983 War Scare: ‚The Last Paroxysm‘ of the Cold War Part I“. National Security Archive Electronic Briefing Book No. 426, veröffentlicht am 16. Mai 2013 unter:
http://nsarchive.gwu.edu/NSAEBB/NSAEBB426/
Ricardo Tarli: „Die Legende von ,Able Archer’“, veröffentlicht von Neue Zürcher Zeitung am 5. November 2013 unter: http://www.nzz.ch/die-legende-von-able-archer-1.18179144
Benjamin Fischer: „The 1983 War Scare in US-Soviet Relations“, The National Security Archive, veröffentlicht am 16. Mai 2013 unter: http://nsarchive.gwu.edu/NSAEBB/NSAEBB426/
“General Lee Butler Addresses The Canadian Network Against Nuclear Weapons”, Nuclear Age Peace Foundation, veröffentlicht am 11. März 1999 unter:
https://www.wagingpeace.org/general-lee-butler-addresses-the-canadian-network-against-nuclear-weapons/
Alexei Pankin: “CIA, NATO and Swedish Military Plotted Regime Change in Sweden in 1980s”, veröffentlicht von Russia Insider am 16. Februar 2016 unter: http://russia-insider.com/en/history/cia-nato-and-swedish-military-plot-regime-change-sweden-documentary-video/ri12877