Für den Moment haben die USA das größte Gewehr

Lars Schall unterhielt sich mit Lawrence Wilkerson, einem im Ruhestand befindlichen Colonel der U.S. Army, der in der Vergangenheit unter anderem Stabschef des damaligen US-Außenministers Colin Powell war. Wilkerson nennt die Vereinigten Staaten einen „Kriegsstaat“ – und der „Krieg gegen den Terror“ ist seine Daseinsberechtigung („Raison d’Être“).

Von Lars Schall

Lawrence B. Wilkerson, geboren 1945, ist Professor für Government and Public Policy am William & Mary College in Virginia. Zuletzt hat er für die US-Regierung als Stabschef von Colin Powell zu dessen Zeit als US-Außenminister gearbeitet (2002 bis ‘05). Davor hatte er die Position als Associate Director des Policy Planning Teams des US-Außenministeriums unter dem damaligen Direktor Richard N. Haass (heute Präsident des Council on Foreign Relations) inne und war als Mitglied des Teams tätig, welches verantwortlich für Ostasien und den Pazifikraum zeichnete (2001/02).

Bevor er im Außenministerium der USA arbeitete, diente Wilkerson 31 Jahre lang in der U.S. Army. Während dieser Zeit war er unter anderem Angehöriger der Fakultät des U.S. Naval War College (1987 bis ‘89), Sonderassistent von General Powell, als dieser Vorsitzender der Joint Chiefs of Staff war (1989 bis ‘93), und Direktor (bzw. zuvor stellvertretender Direktor) des U.S. Marine Corps War College in Quantico, Virginia (1993 bis ‘97). Wilkerson verließ den aktiven Dienst 1997 im Rang eines Colonel und begann daraufhin seine Arbeit als Berater von General Powell. Er unterrichtete des Weiteren Angelegenheiten der nationalen Sicherheit im Honor Programm der George Washington University.

Lars Schall: Colonel, Ihr Land befindet sich im am längsten währenden Krieg seiner Geschichte, dem sog. „Krieg gegen den Terror“. Welche Schlüsse ziehen Sie nach 16 Jahren dieses Krieges?

Lawrence Wilkerson: Tatsächlich dauert der Krieg seit 26 Jahren an, weil wir den Norden und Süden des Iraks von 1991 bis zur Invasion 2003 bombardierten. Dieser „Krieg“ ist die Daseinsberechtigung des Kriegsstaates, zu dem wir geworden sind. Eisenhower warnte uns 1953 – „Dies ist keine Art zu leben, in jedwedem Sinne. Unter dem drohenden Schatten des Krieges baumelt die Menschlichkeit an einem Kreuz aus Eisen.“ Und als er 1961 sein Amt verließ, warnte er uns wiederum vor dem Militärisch-Industriellen-Komplex, dessen Schatten der Macht jede föderale Einrichtung, jedes Bundesamt, ja, jede Wohnstätte heimsuchte. Er hatte Recht, leider. Wir existieren heute, um Krieg zu führen, und der US-Kongress, traditionell und verfassungsgemäß das kriegserklärende Organ der Regierung, ist zu dem verlängerten Arm der Exekutive geworden, wenn es um die Kriegsführung geht. Darüber hinaus haben wir im sog. „globalen Krieg gegen den Terror“ 5,6 Billionen US-Dollar gegen eine Gefahr ausgegeben, die mit der Wahrscheinlichkeit eines Blitzschlags einen von uns tötet.

LS: Der „Krieg gegen den Terror“ startete mit den Anschlägen des 11 September 2001. Sind alle diesbezüglichen Fragen beantwortet worden oder gibt es immer noch welche, auf die Sie gerne eine Antwort hätten?

LW: Nein, die wichtigsten Fragen von allen bleiben sämtlich unbeantwortet. So hat die 9/11-Untersuchungskommission, wie die meisten Kommissionen dieser Art, die damalige amtierende US-Regierung zu schützen versucht. Als Konsequenz daraus wurden Schlüsselfragen unter den Teppich gekehrt, wie zum Beispiel die Verstrickung der Saudis in die Anschläge und die Tatsache, dass die CIA – gegen geltendes Gesetz – versuchte, einen der Entführer zu „führen“ – was darin resultierte, dass dem FBI nicht mitgeteilt wurde, dass dieser US-Boden betreten hatte. Analog zur Warren-Kommission, die die Ermordung Kennedys klären sollte, gibt es noch viele wichtige Bereiche, die von der 9/11-Kommission unbearbeitet blieben.

LS: Wenn sie von dem einem Entführer sprechen, meinen Sie Khalid al Mihdhar oder Nawaf al Hazmi?

LW: Khalid al Mihdhar, gemäß meinen Informationen. Wiewohl die Agency verzweifelt und verständlicherweise versuchte, an jemanden innerhalb Al-Qaidas Führung heranzukommen, und deshalb versucht haben mag, beide umzudrehen. Meine Informationen weisen aber nur auf al Mihdhar hin.

LS: Ist es seltsam, einen Krieg zu starten, ohne zuvor alle damit verbundenen Sachverhalte anständig zu klären? Ich meine, es könnte der Fall sein, dass sich der Krieg als Angriffskrieg herausstellt, oder? (1) Und wenn ja, was dann?

LW: Ja, die Invasion des Iraks 2003 war fraglos ein Angriffskrieg. Als solcher war er ein illegaler Krieg. Aber wie Mao Tse Tung sagte, internationales Recht ergibt sich letztlich aus dem Lauf eines Gewehrs. Und die Vereinigten Staaten haben – für den Moment – das größte Gewehr.

LS: Was sind Ihre Überlegungen hinsichtlich der sog. „9/11 Truth“-Bewegung?

LW: Ich möchte immer die Wahrheit über Krieg erhalten – und die Wahrheit haben wir heute nicht, in der allgemeinen Öffentlichkeit sowieso nicht.

LS: William Binney, ein ehemaliger hochrangiger Mitarbeiter der National Security Agency (NSA), der die Idee einer neuen, unabhängigen Untersuchung der 9/11-Vorfälle unterstützt, sagte, die NSA hätte die Anschläge vom 11. September verhindern können, habe sich aber dagegen entschieden. (2) Angenommen das stimmt, was ist Ihre Reaktion darauf?

LW: Mir sind verschiedene Gelegenheiten bekannt, bei denen Dienste wie NSA, CIA oder FBI die Angriffe des 11. September wahrscheinlich hätten verhindern können. Eine Regierung, die die Gefährdung durch Al-Qaida analog der Vorgänger-Regierung eingestuft und das Thema rascher vor den nationalen Sicherheitsrat (National Security Council, NSC) gebracht hätte, hätte die Anschläge schon verhindern können.

LS: Warum sind US-Truppen noch immer in Afghanistan? Könnte ihre Präsenz etwas mit Ressourcenströmen in Zentralasien und Chinas „One Belt-One Road“-Projekt zu tun haben?

LW: Sie sind dort aus zwei wesentlichen Gründen: erstens, um den USA ein Hardpower-Potenzial entlang des chinesischen OBOR-Projekts zu verleihen, und zweitens, um US-Streitkräfte in die Nähe des pakistanischen Atomwaffenarsenals zu bringen. Die Bekämpfung von Terroristen und der Staatsaufbau sind lediglich zweitrangige Ziele.

LS: Was sind Ihre allgemeinen Überlegungen hinsichtlich des „One Belt-One Road“-Projekts?

LW: Brillantes strategisches Denkvermögen und ein gewaltiger Einsatz. Gut ausgeführt und in Abstimmung mit den relevanten Mächten, könnte es Millionen aus der Armut heraushelfen und darüber hinaus eine ganze Anzahl der betroffenen Länder zu Reichtum bringen. Aber die Chinesen müssen es auch so wollen – nicht als Expansionsmöglichkeit, sondern als eine Möglichkeit für Handel, Kooperation und regionalen wie globalen Fortschritt.

LS: Wird der endlose „Krieg gegen den Terror“ die USA auf lange Sicht in den Ruin treiben? (3) Sie haben gesagt, dass a) ihr Land „in die Hölle schlittern“ würde, (4) und b) „Wir sind zu einem Staat der Nationalen Sicherheit geworden, das bedeutet, unser Daseinsgrund ist Krieg und Rüstungskonzerne sind die Händler des Todes.“ (5) Wie wird für diesen „Raison d’Être“ bezahlt?

LW: Schulden sind immer relativ. Wie John Maynard Keynes anmerkte: „Langfristig sind wir alle tot“.

Unglücklicherweise mag sich das für das Amerikanische Imperium als wahr erweisen. Mit Trump am Steuer dieses Imperiums steigt die Wahrscheinlichkeit dafür noch mal an. Die Vereinigten Staaten können diese Ausgabenpolitik nicht mehr aufrechterhalten, da nun nichts mehr hinter dem Dollar steht, außer Öl und militärische Macht. Beide bestehen nicht auf Dauer in dieser Welt, wenn man den Maßstab maximaler Nützlichkeit anlegt.

LS: Bezüglich Ihres Punktes, dass die USA „in die Hölle schlittern“, haben Sie in der Vergangenheit auf Frederick H. Hartmanns Theorie der „Konservierung von Feinden“ („conservation of enemies“) hingewiesen. Warum spielt dieses Konzept hier eine Rolle?

LW: Keine Nation möchte mehr Feinde besitzen, als sie im Zaume halten kann. Die USA haben nun den Iran, Syrien, vielleicht den Irak, Nordkorea, Russland, Venezuela und China als Feinde. Darüber hinaus verlieren sie Alliierte wie Deutschland und die Türkei schneller, als sie gegensteuern können. Das ist alles schlecht für das Imperium, wenn nicht am Ende gar tödlich.

LS: Von 2001 bis 2003 waren Sie am Prozess der Invasion des Iraks beteiligt. War das eine verhängnisvolle Entscheidung, die Historiker rückblickend als Beginn des Niedergangs des Amerikanischen Imperiums werten werden?

LW: Ja.

LS: Warum eroberte Ihr Land den Irak, und war es das wert?

LW: Wie mehr als 300 meiner Studenten in den letzten 12 Jahren bemerkt haben, gab es viele, jeweils von den einzelnen Akteuren abhängige Gründe. Für Cheney ging es sowohl um das Öl, als auch um eine Demonstration von Macht. Für Bush war es persönlich. Für Rumsfeld ging es darum, sein Konzept „US Militär gegen staatlichen Akteur“ unter Beweis zu stellen. Für Doug Feith ging es um Israel. Für Dutzende andere war es die „Clean Break Strategy“, um die es ging – das heißt, der Schutz Israels und die Förderung der Demokratie im Nahen Osten. Treffen Sie Ihre Wahl. Mit einem unerfahrenen und schwachen Präsidenten an der Spitze – der dachte, er wäre entscheidend -, war es ein Leichtes für alle diese Sichtweisen, Einfluss auf die Entscheidungsfindung zu nehmen.

LS: Würde es ISIS ohne die Invasion des Iraks geben?

LW: Nein. Abu Musab Al-Zarqawi startete ISIS, und ohne die Invasion des Irak wäre er der weitgehend unbekannte Gangster geblieben, der er war und wäre nie auf eine Höhe mit Al-Qaida gekommen. Es gab Al-Qaida im Irak nicht vor der US-Invasion.

LS: Fühlen die US-Bürger wirklich die Konsequenzen des „Krieg gegen den Terror“ – oder ist die Öffentlichkeit weitestgehend separiert von denjenigen, die tatsächlich kämpfen, und auch von den damit verbundenen Kosten?

LW: Weniger als ein Prozent der Bevölkerung blutet und stirbt für die anderen 99 Prozent. Deshalb hat das amerikanische Volk größtenteils kein Bewusstsein für den Krieg. Darüber hinaus gibt es keine Kriegssteuer und mithin kein Bewusstsein für die enormen Kriegskosten.

LS: Was denken Sie über die Art und Weise, wie die USA mit ihren Veteranen umgeht?

LW: Die USA haben ihre Veteranen rhetorisch immer recht gut behandelt, während sie in der Wirklichkeit weitaus schlechter behandelt wurden.

Das hat in den USA eine gewisse Tradition, die auch damit korrespondiert, dass abgesehen von raren Ausnahmen wie dem Zweiten Weltkrieg, die USA ihre ärmsten und „vernachlässigbarsten“ Bürger in die Fronttruppen packt. Bis heute, sogar nach dem Zweiten Weltkrieg, ist die Geschichte der Veteranenbehandlung eine gemischte.

LS: Was erwarten Sie geopolitisch für das Jahr 2018?

LW: Mehr vom Gleichen – für Amerika einen langsamen Todesmarsch. Das Ende des Imperiums bis zur Mitte des Jahrhunderts oder früher. Die Frage ist, werden die USA einen halbwegs geschmeidigen Übergang hin zu einer Position als Pares inter Pares finden oder werden sie jäh kollabieren, vielleicht sogar auseinanderbrechen?

LS: Herzlichen Dank für das Gespräch, Colonel!

Quellen:

(1) See for example Lars Schall: „From 2001 until today: The Afghanistan War was and is illegal“, Interview with Fancis A. Boyle, published at LarsSchall.com on January 9, 2016 under: http://www.larsschall.com/2016/01/09/from-2001-until-today-the-afghanistan-war-was-and-is-illegal/

(2) Compare Lars Schall: „Plumbing the Depths of NSA’s Spying“, Interview with William Binney, published at Consortium News on November 12, 2014 under: https://consortiumnews.com/2014/11/12/plumbing-the-depths-of-nsas-spying/. See also for this topic Patrick Eddington: “Hayden, NSA, and the Road to 9/11”, published at Just Security on December 7, 2017 under: https://www.justsecurity.org/47632/hayden-nsa-road-911/

(3) According to the Costs of War project at the Watson Center of Brown University, the U.S. spent so far 5,6 trillion US dollars for the War on Terror between 2001 and 2017. Compare Jack Moore: “The Cost of War for the U.S. Taxpayer Since 9/11 Is Actually Three Times the Pentagon’s Estimate”, published at Newsweek on November 8, 2017 under: http://www.newsweek.com/how-many-trillions-war-has-cost-us-taxpayer-911-attacks-705041.

(4) Compare Wilkerson’s speech at a “Veterans For Peace“ gathering in Chicago, published under: – https://www.youtube.com/watch?v=l_lBaV_8tJc&feature=youtu.be (PART ONE) / https://www.youtube.com/watch?v=MPZug3M_0OU&feature=youtu.be (PART TWO).

(5) Compare Wilkerson’s speech at „Code Pink Conference: Divest from the War Machine“, published under: https://www.youtube.com/watch?v=zFJIBU-YBsY&feature=youtu.be

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