Hat es am Ende des Kalten Kriegs eine Abmachung gegeben, die NATO nicht zu erweitern?
Von Lars Schall
„…aber der große Moment findet ein kleines Geschlecht.“
— Friedrich Schiller, „Musenalmanach für das Jahr 1797“ —
Es lässt sich durchaus sagen, dass die Ausweitung des Macht- und Einflussbereichs der NATO im Gegensatz zu den Versprechungen des Westens am Ende des Kalten Krieges gegenüber der Sowjetführung stehen. (1) Allerdings wurden Michail Gorbatschow bei den Verhandlungen zur deutschen Wiedervereinigung und der Erweiterung des NATO-Geltungsbereichs auf ostdeutsches Gebiet keine formellen Garantien gegeben, dass sich die NATO zukünftig nicht gen Osten ausdehnen werde – wie es dann bis 2009 in drei Schritten mit insgesamt zwölf osteuropäischen Staaten geschah. (2) Ein gegebenes Versprechen sollte zwar von Bedeutung sein, ist am Ende aber doch etwas anderes als eine schriftlich festgehaltene Vereinbarung.
War es eine gute Idee, die NATO gen Osten auszudehnen? George F. Kennan, ein Vordenker des Kalten Kriegs, schrieb Anfang 1997 in einer Wortmeldung in der New York Times: „…die Erweiterung der NATO wäre der verhängnisvollste Fehler der amerikanischen Politik in der gesamten Nachkriegszeit.“ Und weiter: „Es ist zu erwarten, dass eine solche Entscheidung die nationalistischen, antiwestlichen und militaristischen Tendenzen in der russischen Öffentlichkeit anheizen, sich negativ auf die Entwicklung der russischen Demokratie auswirken, die Atmosphäre des Kalten Krieges in den Ost-West-Beziehungen wiederherstellen und die russische Außenpolitik in eine Richtung lenken würde, die uns ganz und gar nicht gefällt.“ (3)
Eine weitere Frage ist, ob der Kalte Krieg je wirklich geendet hat, oder aber, wann der neue Kalte Krieg begann. Der inzwischen verstorbene US-Historiker Stephen F. Cohen, ein Mitglied des Council on Foreign Relations, sagte 2015, der neue Kalte Krieg habe bereits „vor mehr als einem Jahrzehnt“ seinen Anfang genommen. „Meine Ansicht [seit einiger Zeit] war, dass die Vereinigten Staaten entweder den vorhergehenden Kalten Krieg nicht beendet hatten, obgleich Moskau es hatte, oder dass er in Washington erneuert wurde.“ (4)
Wenn das Geheimnis der Politik, wie Bismarck nahelegte, darin besteht, einen guten Vertrag mit Russland zu schließen, dann wurde zu Beginn der 1990er Jahre eine große Gelegenheit vertan, große Politik zu betreiben.
Quellen:
(1) Vgl. Joshua R. Itzkowitz Shifrinson: Deal or No Deal? The End of the Cold War and the U.S. Offer to Limit NATO Expansion. International Security 40, Nr. 4, Frühling 2016, S. 7-44; https://direct.mit.edu/isec/article/40/4/7/12126/Deal-or-No-Deal-The-End-of-the-Cold-War-and-the-U. Beachte des Weiteren den Artikel Vermerk eines deutschen Diplomaten – Archivfund bestätigt Sicht der Russen bei Nato-Osterweiterung. Die Welt, 18. Februar 2022; https://www.welt.de/politik/ausland/article236986765/Nato-Osterweiterung-Archivfund-bestaetigt-Sicht-der-Russen.html. Eine weitere erschöpfende Bearbeitung des Themas des NATO-Versprechens, sich nicht gen Osten auszudehnen, findet sich in Marc Trachtenberg: The United States and the NATO Non-extension Assurances of 1990 – New Light on an Old Problem? November 2020; http://www.sscnet.ucla.edu/polisci/faculty/trachtenberg/cv/1990.pdf. Aus deutscher Sicht ist auch interessant: Karsten Voigt: Anfang 1990 – Die SPD, Moskau und die NATO-Frage. Das Blättchen, 29. Februar 2016; https://das-blaettchen.de/2016/02/anfang-1990-die-spd-moskau-und-die-nato-frage-35367.html. Bevor ich Kenntnis von dem Artikel nahm, fragte ich Karsten Voigt schriftlich, ob er mir etwas zu einem bestimmten Gespräch vom Februar 1990 sagen könne, das Wladimir Putin 2016 gegenüber der Bild-Zeitung erwähnte. Die Fassungen des Putin-Interviews, die der Kreml veröffentlichte, weichen ab von dem, was die Bild-Zeitung auf deutsch druckte. Aus der Kreml-Fassung ergibt sich, dass Putin der Bild-Zeitung Dokumente vorlegte, (die von der Bild-Zeitung nicht veröffentlicht wurden), und dabei sagte: „(D)as sind Arbeitsgespräche zwischen den deutschen Politikern Genscher, Kohl und Bahr und der sowjetischen Führung Herrn Gorbatschow und Herrn Falin, der damals an der Spitze der Internationalen Abteilung des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei stand. Sie sind noch nie veröffentlicht worden. Sie und Ihre Leser werden die Ersten sein, die diese Reden von 1990 zu lesen bekommen. Sehen Sie, was Egon Bahr sagt: „Wenn wir bei der Vereinigung von Deutschland nicht die entscheidenden Schritte zur Überwindung der Spaltung Europas und der feindseligen Blöcke machen, wird die Entwicklung einen sehr ungünstigen Verlauf nehmen, sie wird die UdSSR zur internationalen Isolation verdammen. Das hat er am 26. Juni 1990 gesagt.“ Etwas später im Interview folgt, wie Putin die Aufzeichnung eines Gesprächs vom 27. Februar 1990 erwähnt. „Es ist die Aufzeichnung des Gesprächs zwischen Herrn Falin seitens der Sowjetunion und auf deutscher Seite Herr Bahr und Herr Voigt.“ Karsten Voigt nahm mir gegenüber zu diesem Gespräch wie folgt Stellung: „Putin zitiert aus einer sowjetischen Aufzeichnung. Außerdem hat es eine Aufzeichnung des deutschen Mitarbeiters von Egon Bahr gegeben. Bahr und Falin hatten sich am Vorabend des Gespräches getroffen. Davon habe ich erst am folgenden Tage erfahren. Bahr leitete unsererseits die Delegation. Dass ich mitgeschickt wurde, hing damit zusammen, dass die Fraktionsführung wusste, dass ich andere Vorstellungen als Egon Bahr hatte. Bahr argumentierte – wie Falin – gegen jede NATO-Mitgliedschaft des vereinigten Deutschlands. Ich warf ein, dass ich mir die NATO-Mitgliedschaft zumindest übergangsweise bis zu einem gesamteuropäischen neuen Sicherheitssystem (dafür argumentierten Bahr und Falin) vorstellen konnte. Von einer Erweiterung der NATO über die Mitgliedschaft eines vereinigten Deutschlands hinaus, war keine Rede. In dem Gespräch engagierten sich anderen sowjetischen Gesprächspartner – anders als Falin – kaum. Ich habe dies immer so interpretiert, dass sie zum damaligen Zeitpunkt noch gegen eine Mitgliedschaft des vereinigten Deutschlands waren, dass dies für sie aber kein zentraler Punkt war.“ Für die Regierung der USA unter Präsident George H. W. Bush war die Frage des Verbleibs eines wiedervereinigten Deutschlands in der Atlantischen Allianz dagegen bereits zu diesem Zeitpunkt zentral; sie knüpfte ihre Unterstützung für die Wiedervereinigung Deutschlands an die Vorbedingung, dass dieses Deutschland Mitglied in der NATO bleiben müßte. Vgl. das Kapitel Fitting Germany into a New Europe: Establishing the Preconditions for Agreement, in Stephen F. Szabo: The Diplomacy of German Unification. St. Martin’s Press, 1992. Ich bat bzgl. dieses Punktes um eine Klarstellung von Frank Elbe, seinerzeit Bürochef des deutschen Außenministers Hans-Dietrich Genscher. Das Büro von Botschafter Elbe schrieb mir dazu: „Ja, es stimmt: die USA haben Ihre Zustimmung zur deutschen Einheit von der Mitgliedschaft des vereinigten Deutschlands in der NATO abhängig gemacht.“ In diesem Kontext von Interesse: George Friedman vom privaten Think-Tank STRATFOR sprach im März 2015 auf einer Pressekonferenz des Chicago Council on Global Affairs über „das maßgebliche Interesse der Vereinigten Staaten im letzten Jahrhundert – also im Ersten, Zweiten und im Kalten Krieg“ – und das „waren die Beziehungen zwischen Deutschland und Russland. Vereinigt sind diese beiden die einzige Macht, die uns ernsthaft bedrohen könnte. Unser Hauptziel war es demnach, sicherzustellen, dass es nicht zu einem Deutsch-Russischen Bündnis kommt.“ Wenn das zutreffen sollte, dann wurde der Kardinalfehler in dieser Hinsicht bereits gen Ende des 19. Jahrhunderts begangen – genauer: im Jahr 1887, als der deutsche Reichskanzler Otto von Bismarck, „trotz seines strategischen Genies“, im Bereich der Außenpolitik übersah, „dass eine enge Verbindung zwischen Deutschland und Russland der Schlüssel war. 1887 schien sich beispielsweise eine entscheidende Gelegenheit für Deutschland zu ergeben, Russlands Schicksal durch eine Bürgschaft für die Schulden des Zaren mit dem eigenen Schicksal zu verbinden. Aber eine verdammte und verdammende Kurzsichtigkeit ließ all solche Versuche scheitern. Selbst am Vorabend des Krieges, im Jahr 1905, als Bismarck schon lange gegangen war, versuchten Wilhelm und Nikolas noch ein letztes Mal, irgendeine Art von Bündnis zu schmieden. Auch dieser Versuch führte zu nichts. Eine versäumte Gelegenheit nach der anderen. Der Rest ist, wie man sagt, Geschichte.“ Vgl. Lars Schall: Die üblichen Geschäfte hinter dem Gemetzel. Interview mit Guido Giacomo Preparata, LarsSchall.com, 5. August 2012; https://www.larsschall.com/2012/08/05/die-ublichen-geschafte-hinter-dem-gemetzel/. Zur Konstellation im Jahr 1887 (und später 1905) siehe Guido Giacomo Preparata: Wer Hitler mächtig machte – Wie britisch-amerikanische Finanzeliten dem Dritten Reich den Weg bereiteten. Perseus, 2010, S. 44-45. Statt Russland mit Krediten zu versorgen, führte das Dt. Reich im November 1887 das sogenannte Lombard-Verbot ein, welches das Zarenreich „von allen deutschen Kreditquellen weitgehend abschnitt.“ Schon „wenig später“ sprang Frankreich mit einer „gezielten Begünstigung russischer Staatsanleihen“ ein, „und Bismarck selber bemerkte am Jahresausgang zu dem preußischen Kriegsminister Bronsart von Schellendorf düster: ,Nach Lage der europäischen Politik ist es wahrscheinlich, daß wir in nicht zu ferner Zeit den Krieg gegen Frankreich und Rußland gleichzeitig zu bestehen haben werden.’“ Zit. wie Lothar Gall: Bismarck – Der weiße Revolutionär. Ullstein, 1980, S. 635-636. Wenn man genau ist, entstanden die Verwerfungen im Verhältnis zwischen dem Dt. Reich und Russland, welche Frankreich finanziell und politisch für sich zu nutzen wusste, bereits nach dem Berliner Kongress 1878. Siehe hierzu das 13. Kapitel „Finanz und Diplomatie“ in Fritz Stern: Gold und Eisen – Bismarck und sein Bankier Bleichröder. Rowohlt, 1988. Wie Stern in seiner Doppelbiographie aufzeigt, avancierte der Bankier Gerson Bleichröder über Jahrzehnte hinweg zu Bismarcks engstem Berater, nachdem er von Mayer Amschel Rothschild empfohlen worden war (zu dem Bismarck als preußischer Gesandter beim Deutschen Bund in Frankfurt am Main Kontakt hatte). Bleichröders Bank, in Berlin beheimatet, fungierte als Korrespondenzpartner der Rothschild-Banken. Als Repräsentant Bismarcks verhandelte Bleichröder in Versailles u.a. mit den französischen Rothschilds die Reparationsansprüche aus dem Einigungskrieg von 1870/71. Es waren am Ende, siehe Stern, die französischen Rothschilds, die seit den 1880er Jahren die finanzielle Oberhand über den Zarenhof und den russischen Adel erlangten.
(2) Vgl. Mary Elise Sarotte: A Broken Promise? What the West Really Told Moscow About NATO Expansion. Foreign Affairs, September/Oktober 2014; www.foreignaffairs.com/articles/russia-fsu/2014-08-11/broken-promise; sowie Mark Kramer/Mary Elise Sarotte: No Such Promise, Foreign Affairs, November/Dezember 2014; www.foreignaffairs.com/articles/eastern-europe-caucasus/no-such-promise. Bezüglich der Aussagen, die von Baker, Bush, Genscher, Kohl, Gates, Mitterrand, Thatcher, Hurd, Major und Wörner gegenüber der Sowjetführung gemacht wurden, siehe Svetlana Savranskaya/Tom Blanton: NATO Expansion: What Gorbachev Heard. National Security Archive, 12. Dez. 2017; https://nsarchive.gwu.edu/briefing-book/russia-programs/2017-12-12/nato-expansion-what-gorbachev-heard-western-leaders-early. Zu den Aussagen gegenüber Boris Jelzin, dass es keine NATO-Osterweiterung geben werde, vgl. Svetlana Savranskaya/Tom Blanton: NATO Expansion: What Yeltsin Heard. National Security Archive, 16. März 2018; https://nsarchive.gwu.edu/briefing-book/russia-programs/2018-03-16/nato-expansion-what-yeltsin-heard
(3) Zit. wie George F. Kennan: A Fateful Error. The New York Times, 5. Februar 1997; https://www.nytimes.com/1997/02/05/opinion/a-fateful-error.html
(4) Vgl. Patrick L. Smith: The New York Times ’basically rewrites whatever the Kiev authorities say’: Stephen F. Cohen on the U.S./Russia/Ukraine history the media won’t tell you, Salon, 17. April 2015; http://www.salon.com/2015/04/16/the_new_york_times_basically_rewrites_whatever_the_kiev_authorities_say_stephen_f_cohen_on_the_u_s_russiaukraine_history_the_media_wont_tell_you/