Ukraine-Krieg: „Es gibt weit mehr Verlierer als Gewinner.“

In einem kurzen Interview sagt der ehemalige US-Regierungsbeamte Lawrence Wilkerson, dass einige Leute in den Vereinigten Staaten „die Ukraine benutzen wollen, um einen Regimewechsel in Russland herbeizuführen, die Hegemonie der USA über Westeuropa wiederherzustellen, sie fest über Osteuropa zu etablieren und dann ein vereintes Europa (ohne Russland) zu benutzen, um China herauszufordern und wenn nötig zu bekämpfen.“

Von Lars Schall

Lawrence B. Wilkerson, geboren 1945, ist Professor für Government and Public Policy am William & Mary College in Virginia. Zuletzt hat er für die US-Regierung als Stabschef von Colin Powell zu dessen Zeit als US-Außenminister gearbeitet (2002 bis ‘05). Davor hatte er die Position als Associate Director des Policy Planning Teams des US-Außenministeriums unter dem damaligen Direktor Richard N. Haass (heute Präsident des Council on Foreign Relations) inne und war als Mitglied des Teams tätig, welches verantwortlich für Ostasien und den Pazifikraum zeichnete (2001/02).

Bevor er im Außenministerium der USA arbeitete, diente Wilkerson 31 Jahre lang in der U.S. Army. Während dieser Zeit war er unter anderem Angehöriger der Fakultät des U.S. Naval War College (1987 bis ‘89), Sonderassistent von General Powell, als dieser Vorsitzender der Joint Chiefs of Staff war (1989 bis ‘93), und Direktor (bzw. zuvor stellvertretender Direktor) des U.S. Marine Corps War College in Quantico, Virginia (1993 bis ‘97). Wilkerson verließ den aktiven Dienst 1997 im Rang eines Colonel und begann daraufhin seine Arbeit als Berater von General Powell. Er unterrichtete des Weiteren Angelegenheiten der nationalen Sicherheit im Honor Programm der George Washington University.

Gäbe es heute einen Krieg in der Ukraine ohne die NATO-Osterweiterung und die Einmischung der USA in ukrainische Angelegenheiten im Jahr 2014 und danach?

Tatsächlich begann die Einmischung der USA in den Jahren 2005-06, als die CIA begann, die in der Ostukraine operierenden Neonazis zu unterstützen. Aber zu Ihrer konkreten Frage: Die Antwort lautet nein, oder besser gesagt, es gäbe angesichts der instabilen Lage in weiten Teilen Osteuropas den gegenwärtigen Konflikt nicht.  Wer weiß, wozu die Instabilität sonst hätte führen können.

Das Wall Street Journal berichtete kürzlich: Der deutsche Bundeskanzler Scholz „sagte Herrn Zelensky am 19. Februar in München, dass die Ukraine auf ihre NATO-Bestrebungen verzichten und ihre Neutralität als Teil eines umfassenderen europäischen Sicherheitsabkommens zwischen dem Westen und Russland erklären sollte. Der Pakt würde von Herrn Putin und Herrn Biden unterzeichnet werden, die gemeinsam die Sicherheit der Ukraine garantieren würden.“ (1) Herr Zelensky lehnte dieses Angebot ab, und zwei Tage später begann die russische Invasion. Ihr Kommentar dazu?

Ich kann nicht kategorisch sagen, dass es keine Invasion gegeben hätte, wenn die beschriebene Vereinbarung umgesetzt worden wäre, aber ich muss sagen, dass ich stark zu dieser Schlussfolgerung neige.

Ist es von Interesse, dass es ein geheimes CIA-Trainingsprogramm in der Ukraine gab, um auf die russische Invasion vorzubereiten, (2) und dass CIA-Direktor William J. Burns 2008 als damaliger US-Botschafter in Moskau eine Mitteilung verfasste, in der es bezüglich Russlands Position zur NATO-Mitgliedschaft sowohl der Ukraine als auch Georgiens hieß: „Njet heißt Njet“? (3)

Ja, das ist von Interesse.

Ist es nun, da wir einen Krieg haben, das Ziel der USA, den Krieg zu verlängern? Niall Ferguson schrieb vor nicht allzu langer Zeit: „(D)ie Biden-Regierung ‚will der Ukraine helfen, Russland in einen Sumpf zu ziehen, ohne einen breiteren Konflikt anzuzetteln‘ … Ich schließe daraus, dass die USA beabsichtigen, diesen Krieg in Gang zu halten. … Ich gehe davon aus, dass hochrangige britische Persönlichkeiten in ähnlicher Weise sprechen. Man glaubt, dass ‚die erste Option Großbritanniens darin besteht, den Konflikt auszuweiten und damit Putin ausbluten zu lassen‘. Immer wieder höre ich solche Formulierungen. Das erklärt unter anderem das Fehlen jeglicher diplomatischer Bemühungen der USA, einen Waffenstillstand zu erreichen.“ (4)

Ich glaube nicht, dass dies das Ziel von Präsident Biden ist, aber es ist eindeutig das Ziel der Neokonservativen und anderer im Umfeld des Präsidenten – wie Victoria Nuland – sowie vieler Mitglieder des US-Kongresses und Außenstehender wie John Bolton. Ihr Ziel ist es, die Ukraine zu nutzen, um einen Regimewechsel in Russland herbeizuführen, die Hegemonie der USA über Westeuropa wiederherzustellen, sie fest in Osteuropa zu etablieren und dann ein vereintes Europa (ohne Russland) zu nutzen, um China herauszufordern und wenn nötig zu bekämpfen.

Wer sind die bisherigen Gewinner und Verlierer dieses Krieges?

Die Kriegsgewinnler, die Magnaten der fossilen Brennstoffe, die Banker – bis zu einem gewissen Grad – die Befürworter einer Rückkehr zum Bau taktischer Atomwaffen, die Politiker, die sich am Krieg und den damit verbundenen politischen Machtsicherungen ergötzen, die Medienbesitzer und ihre Autoren und Fernsehmoderatoren, die den Krieg propagieren, und andere sind die „Gewinner“.  Die Verlierer sind zahlreich, angefangen bei den unschuldigen Männern, Frauen und Kindern in der Ukraine; sicherlich sind die Levante und Nordafrika die Verlierer, die beide in Bezug auf Getreide und andere Grundnahrungsmittel zunehmend von der Ukraine und Russland abhängig sind, und ein Großteil der Welt von Weißrussland in Bezug auf Kali – wenn der Krieg anhält und die Agrarexporte – wie jetzt – ernsthaft in Mitleidenschaft gezogen werden; die Bürger im Westen und anderswo, die von den steigenden Preisen für fossile Brennstoffe betroffen sind, und letztlich und in katastrophaler Weise von den langfristigen Auswirkungen auf die Märkte und die Volkswirtschaften im Allgemeinen. Kurzum, es gibt weit mehr Verlierer als Gewinner, aber leider haben die Verlierer in politischen Angelegenheiten wie dem Krieg wenig Mitspracherecht.

Schießt sich der Westen mit seinen Sanktionen in den eigenen Fuß?

Ja, aber vielleicht auch in beide Füße.

Eine weitere Konsequenz besteht darin, dass sich Russland stärker als je zuvor mit China einlassen wird. Was würde eine strategische Partnerschaft zwischen beiden Ländern in den nächsten Jahren im Hinblick auf den „Neuen Kalten Krieg“ bedeuten?

Wenn die Neokonservativen ihre größten Hoffnungen verwirklichen – eine Art Auflösung des russischen Staates, wie sie ab 1917 stattfand –, wird dies keine Rolle spielen, außer vielleicht auf lange Sicht, wenn Russland die Krise übersteht, sich erholt und zu einem mehr oder weniger ernsthaften Verbündeten Pekings wird. Aber bis dahin hoffen die Neokonservativen, China besiegt zu haben. 

Wann hat nach Ihrer Lesart der „Neue Kalte Krieg“ begonnen?

In dem Moment, als der unerfahrene und völlig politisch motivierte (lies: alles für die Macht tun ,und mehr Macht ist noch besser) William J. Clinton den Thron, äh, das Oval Office bestieg und den Goldman Sachs/CityGroup-Welt-Plünderer Robert Rubin mitbrachte. In meiner 22-jährigen Beschäftigung mit der US-Präsidentschaft und insbesondere mit schicksalhaften Entscheidungen (die zu Krieg oder ernsthaften verdeckten Operationen führen) ist die größte Schwäche die Unerfahrenheit. Leider wählt unsere „Demokratie“ in aller Routine solche Neulinge.

Eine letzte Frage. Glauben Sie, dass eine Aussage des preußischen Generals Carl von Clausewitz (1780-1831) in Bezug auf die Medienberichterstattung über den Krieg weiterhin Gültigkeit hat? „Ein großer Teil der Nachrichten, die man im Krieg bekommt, ist widersprechend, ein noch größerer falsch und bei weitem der größte einer ziemlichen Ungewißheit unterworfen.“

Zweifellos richtig, zumal heute die Medien der mächtigsten Nation der Welt und ihrer einzigen Staatsmacht, die sich ständig im Krieg befindet, der Vereinigten Staaten, im Wesentlichen zu einem vierten Arm der Regierung geworden sind.

Quellen:

(1) Vgl. https://www.wsj.com/articles/vladimir-putins-20-year-march-to-war-in-ukraineand-how-the-west-mishandled-it-11648826461

(2) Vgl. https://news.yahoo.com/exclusive-secret-cia-training-program-in-ukraine-helped-kyiv-prepare-for-russian-invasion-090052743.html

(3) Vgl. https://wikileaks.org/plusd/cables/08MOSCOW265_a.html

(4) Vgl. https://www.bloomberg.com/opinion/articles/2022-03-22/niall-ferguson-putin-and-biden-misunderstand-history-in-ukraine-war?sref=qD0EKJAt

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